„Erinnerungen bisher weitgehend verschlossen“ – Abendbericht vom 18. Oktober 2024

Francois Bry erinnerte letzten Freitag im MLB „unerwartete, ernste Kindheitserlebnisse, die ihm bisher weitgehend verschlossen waren“. Während der Jugend gingen ihm manche Erinnerungen verloren. In einfach geformter, literarischer Sprache befreite der Ich-Erzähler bisher vergessene oder verschüttete Begebenheiten aus seiner Vergangenheit. Oft schmerzlich, aber zugleich auch immer erlösend.

Ausgelöst durch den Duft eines Gebäcks in Venedig, denkt er zurück an Rabbat, die Stadt seiner Kindheit. Von hier kannte er diesen Duft. Mit 42 Jahren sieht er das Fastenbrechen im Ramadan wieder. Zu dieser Zeit lebte er mit seinen Eltern in Marrakesch. Soldaten versorgen Bettler und Arme mit einer bescheidenen Suppe. Auch ihm wird eine angeboten. „Nun gehöre ich zu den Essenden“. Der Vater will keine milde Gabe. Oder vom Kerzenständer aus Messing von der Auerdult, der manchen Stromausfall bei den Großeltern durch Nähe und glückliche Gefühle mehr als erträglich machte. “Wenig Licht, aber Gemeinsamkeit“. Die eindringliche Begebenheit mit dem seltsamen, alten Rollschuhfahrer am Trocadero de Paris. Der seine einsamen Kreise zur Musik „An der schönen blauen Donau“ von Richard Strauß dreht, die aus einem mitgebrachten Plattenspieler kommt. Er will keine Geldstücke dafür und von Kindern nicht gestört werden. Auch der Ich-Erzähler war Rollschuhläufer. In der Erinnerung „Das Spiel“ spielen die Brüder mit Autos auf dem Boden der Wohnung. Der ältere Bruder bedient eine Schranke. Der Erzähler hat keine Freude an diesem Spiel. „Stimmt etwas nicht mit mir?“ fragt er sich. „Ich höre nur noch mein Herz.“

Zum Schluß der Erinnerungen – auf dem Weg zur Schule – am „Canal St. Martin“ radiert er die Schiffe, die Autos, die Menschen, Alles bis nur noch das Wasser übrig bleibt. „Ich lasse die Zeit stehen, es fühlt sich gut an“. Ein Weinen ohne Ende. Das Wasser wäscht die Tränen. Er setzt seinen Weg in die Schule fort. Kommt zu spät. Den Lehrer stört das nicht. Die Zeit verschwimmt zwischen den Zeiten. Und manchmal kommen unerwartete Erinnerungen auf einen zu. Oft schmerzlich, aber zugleich auch immer erlösend.

Die Gefühle stehen im Mittelpunkt. Das Drumherum ist unscharf. Handlung gibt es keine. Das ist aber unwichtig. Die Handlung ist das Erinnern. Ganz unspektakulär, aber eindringlich. Großer Applaus!

Abendbericht: Beppo Rohrhofer
Foto: Simone Kayser