Datum/Zeit
Fr., 23. Januar 2026
19:30
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Veranstaltungsort
MLb Milchstraße 4 München
Unter der Haut des Werkes: Text- und Musik-Körper als Zwischenzustand
In dieser Lesung öffnet sich ein Raum, in dem Literatur nicht mehr nur erzählt, sondern sich selbst erarbeitet. Ein Raum, in dem Textkörper atmen, in denen Sprache zu Protokoll, Klang, Widerstand wird – und in dem das Werk selbst unter Beobachtung steht: als Organismus, als Fehlerzustand, als Zwischenwesen.
Der erste Teil des Abends führt mitten hinein in zwei komplementäre Textkomplexe:
Irrtum der Maschine – ein literarisches System aus Flutmetaphysik, maschinenartigen Fragmenten und neonhellen Nachtgesichtern.
Die Texte durchlaufen Zustände zwischen Fieber, Erinnerung und algorithmischer Gegenwart – Figuren aus Sprache, Licht und Staub bewegen sich durch Bars als Flutbecken, Straßen als nervliche Schaltkreise, Identitäten als Stimmen des Misstrauens.
Mr. Dogma: Immer Online – ein Kommentar zur Gegenwart: scharf, kulturkritisch, politisch, unbarmherzig (ein Stück Kliniktheater – weißes Licht, stählerne Sätze, keine Psychologie) legt Mr. Dogma das Betriebssystem unserer Zeit frei: digitale Überforderung, Push-Reize als Nervengift, politische Erschöpfung, mediale Dauersimulation, Kriege des Alltags, weder versöhnlich noch dekorativ, sondern diagnostisch.
Der zweite Teil der Lesung öffnet den Raum zu einer anderen Form von Text: jene, die nicht auf Papier endet, sondern sich in Rhythmus, Atem, Ton und Performance weiterführt. Hier wird Literatur nicht nur gelesen, sondern in Musik übersetzt – und Musik wird zum Träger einer Sprache, die jenseits von Erzählung operiert.
Im Mittelpunkt stehen Texte aus zwei Werkkomplexen:
- Die Primär-Es-Trilogie (bestehend aus Katharsis · Restkrieg · Die Hagenmaschine): Diese Trilogie ist nicht nur klassisches Musiktheater, sondern ein System aus Stimme, Körper, Geräusch und Text, das permanent zwischen Ritual und Angriff, zwischen Bekenntnis und Zersetzung oszilliert; eine poetische Zerreißprobe, Mythos und Industrie, Wut als Mechanik, Körper als Archiv eines Kampfes, der nie geführt, aber stets erlitten wurde. Diese Texte sind literarische Partituren: geschrieben in Druck, Atem, Takt, Fragment.
- The Iconoclast At The End Of The World: eine düstere, poetisch-mythologische Welt, in der Ikonen brennen, Körper im Schnee verschwinden, Neonlicht zu Erinnerung wird, und das Ende der Welt nicht Zusammenbruch bedeutet, sondern ästhetische Klarheit. Die Texte dieses Albums schwanken zwischen visionärer Bildhaftigkeit, existenzieller Kälte, metaphysischem Protest und einer sehr modernen Form von Melancholie.
Im Anschluss an die Textlesung dieses zweiten Teils werden ausgewählte Musikstücke aus den genannten Projekten vorgestellt. Diese Stücke dokumentieren: wie ein Textkörper zum Klangkörper wird, wie Rhythmus ein Gedanke sein kann, wie aus der Wunde Takt und Melodie wird, wie sich das Literarische im Musikalischen neu formt.
Christian Dörge (Jahrgang 1969) arbeitet als Schriftsteller, Musiker und Dramatiker an der Schnittstelle von Literatur, Performance und Klangkunst.
Sein Werk verbindet poetische Härte, theoretische Präzision und eine ausgeprägte Sensibilität für Rhythmus, Körperlichkeit und maschinelle Zustände. Er schreibt Texte, die zwischen Prosa, Manifest, Protokoll und lyrischer Zerlegung oszillieren – und komponiert Musik, die diese Textkörper weiterführt, verzerrt oder in vollkommen andere Zustände überträgt. Seine Sprache ist präzise, rhythmisch, oft klinisch, zugleich hochgradig bildhaft und emotional geladen: eine Prosa, die sich wie eine Maschine verhält und dennoch vom Menschlichsten ausgeht.
Als Musiker und Komponist entwickelt Dörge Songtexte, Albumzyklen und Musiktheater-Formate, die Literatur nicht illustrieren, sondern erweitern. Seine Songs funktionieren als literarische Miniaturen – dunkle, dichte, oft mythische Klangräume, die auf Schmerz, Erinnerung, Gewalt, Körper und Erlösungsunmöglichkeit reagieren. Im Zusammenspiel von Text und Musik entwickelt Dörge eine Ästhetik des Zwischenzustands: zwischen Mensch und Maschine, zwischen Sprache und Geräusch, zwischen Erzählung und Zerfall, zwischen Identität und Algorithmus.
Christian Dörge lebt und arbeitet in Deutschland und in Schweden. Sein Werk umfasst Prosa, Lyrik, Essays, Dramatik, Performancekonzepte und zahlreiche Musikveröffentlichungen. Er gilt als einer der markantesten Stimmen, die Gegenwartsdiagnose, poetische Radikalität und klangkünstlerische Forschung miteinander verbinden.
Künstlerhomepage: www.christiandoerge.de