Am Ende dieses interessanten Abends hatte die Autorin Tanja Wagner 23 Gedichte aus ihrem kleinen blauen Büchlein mit Vehemenz vorgetragen, oder waren es 24? Wie bei dieser Autorin zu erwarten, folgten alle ihre Texte einer jeweils streng durchgehaltenen Metrik und ggf. auch Reimschema (bei weitem nicht alle Gedichte reimten sich). Selbst ein von ihr in englischer Sprache geschriebenes und vorgetragenes Gedicht folgte solchen Regeln mühelos und leicht. Die Rhythmen, antwortete sie auf die Frage, wie denn ihre Gedichte entstehen, füllten sich halt mit Wörtern. In ihr blaues Büchlein, erzählte die Autorin weiter, kommen die Gedichte dann, wenn ich meine, dass sie fertig sind. Eingetragen sind sie dort gleichwohl mit Bleistift; vielleicht könnte sich doch noch einmal etwas ändern. Denn sie würden ja an Freunde zur „Abnahme“ geschickt, wie sie einen Teil ihres Gedichtentstehungsprozesses nannte.
Die zum Teil sehr artifiziellen und nicht gleich erwartbaren Gedichtinhalte, Bilder und Metaphern können an dieser Stelle nicht entfernt alle dargestellt und wiedergegeben werden. Eine Auswahl: Im ersten Teil des Abends ging es in den Texten oft um Tod und Sterben, ein roter Faden, der sich durch die Gedichte schlängelte. So handelte ein Gedicht vom Sterben des Vaters: Im Wohnzimmer unter mir lebt eine Krankheit. In der Diskussion darüber sorgten im Gedicht erwähnte zwecklose Organe für Verwirrung bzw. Klärungsbedarf. Ein anderes Gedicht wiederum war praktisch eine Anordnung für das eigene Begräbnis Bringt mich zum Schluss in ein Rosenbeet. An dem Gedicht Galatea entspann sich eine längere Diskussion über das Wesen der Kunst und des Künstlers, dessen Kunst und der am Ende statisch und eine Statue wird (?). In der Diskussion wurde dieses Bild indirekt übertragen auf den betont rhythmischen Vortragsstil der Autorin: Dieser sei nach einigem Zuhören nur noch als statischer Singsang wahrnehmbar, wurde gemeint. Das Gedicht Finale: Es kann nur noch wenige Schritte geben wurde von einem Zuhörer als Epitaph auf den plötzlichen Tod vor wenigen Tagen des allseits bekannten Mitglieds des MLB, Hans-Karl Fischer, gewertet. Die Autorin, so wurde geäußert, zeige mit ihren Texten, dass – wenn überhaupt – nur das poetische Sprechen die einzige Möglichkeit sei, über den Tod zu sprechen.
Nach der Pause las die Autorin ihr Gedicht Ikarus – geschrieben in der 9. oder 10. Klasse, wie sie erzählte – nicht einfach im gewohnten Rhythmus vor, sondern deklamierte es gestenreich-überbetont, als sei es ein dramatischer Theatertext. Die Anmaßung des Ikarus Ich jage den Himmel hoch / und trag‘ ihn zur Erde, wurde durch diese Vortragsart besonders deutlich und augen-, bzw. ohrenfällig. Das Gedicht Sturm, (Winde pfeiffen …. Tote fliegen) schien von einem klein-leichten Weltuntergang zu erzählen: Kirchenglocken läuten panisch / … lausche brav, wie’s weiterkracht. Das Wörtchen ‚brav‘ in diesem Zusammenhang, löste eine kleine Diskussion aus. Erwähnenswert ist noch der Text mit dem Titel: Wenn einmal meine Mutter stirbt, denn in ihm ging es darum, ob die eigene Erinnerung der Mutter gerecht wird oder ihr Unrecht tut. Die Verlässlichkeit der eigenen Erinnerung für das Selbstverständnis der sich Erinnernden wurde als fragwürdig und schwankend geschildert und führte nicht voraussehbar zur Lüge oder zur Wahrheit im Verhältnis zur Mutter. Ein weiterer Text, nach Angaben der Autorin schon in der 7. 10. Klasse geschrieben beschäftigte sich mit dem Wert der Worte: Ich schreibe Worte in den Wind …/ Worte die nicht sind.
Über fast alle Texte wurde intensiv diskutiert; ihre strenge Form, ihre stark gebundene Sprache, die ihnen etwas durchgängig Leichtes und im positiven Sinne Aus- der- Zeit- Gefallenes, nicht der üblichen Gegenwart angehörig, verliehen, wurden wohlwollend und anerkennend aufgenommen. Die Autorin erklärte am Ende des Abends, in ihrem kleinen blauen Büchlein befänden sich noch viel mehr Gedichte, die für einen weiteren Abend reichten. Zuletzt ausdauernd-langer Beifall.
Abendbericht: USN
Foto: Beppo Rohrhofer