Die aus China stammende Autorin Shi Mei (Vorname: Mei) entführte an diesem Abend das Publikum des MLb in die chinesische Vergangenheit.
Zunächst las sie aus dem aktuellen Romanprojekt „Winterkirschblüte“, einem Text, der aus zahlreichen Episoden zusammengesetzt ist und autobiographische Elemente enthält. In einer dieser Episoden befindet sich die Ich-Erzählerin am gelben Fluss, wo sie als junge Frau fern der Familie eine Ausbildung als Schweißerin begonnen hat und bei einem Spaziergang zum nahen Wasserkraftwerk stolz ihren ersten Monatslohn mit sich trägt.
In kurzen, einfachen Sätzen werden die Umgebung der Erzählerin, ihre Befindlichkeit, ihre Vergangenheit und historisch-soziale Besonderheiten der chinesischen Gesellschaft beschrieben, wobei die Erzählung sich selten in Details begibt.
Das Publikum lobte die ruhige Stimmung, den Charme der Erzählweise und die zum Ausdruck kommende Demut und Schicksalsergebenheit der Erzählerin.
Sprachlich und atmosphärisch sehr ähnlich zeigte sich der zweite Text, der die Geburt der Ich-Erzählerin in der Wüste Taklamakan aufgreift und sich überwiegend mit der Familie der Erzählerin befasst. Wie schon der erste Text endet auch dieser mit einem tragischen Paukenschlag: Der junge Vater wird als Konterrevolutionär hingerichtet.
Die zweite Hälfte des Abends war dem bereits erschienenen Roman „Tamarisken in der Wüste“ gewidmet, der die Geschichte der im Jahr 1911 geborenen Großmutter der Autorin erzählt. Diese musste die barbarische Tradition ertragen, bei der sechsjährigen Mädchen die Füße gebrochen und in jahrelanger Quälerei zu „Lotusfüßen“ geformt wurden. Die Großmutter hielt ein ganzes Leben aus, wie eine Tamariske in der Wüste.
Ein interessanter, literarischer Abend mit anhaltendem Applaus für die Autorin.
Abendbericht: Dr. Philipp Stoll
Foto: Hellmuth Lang