Die Autorin Sybille Stempel absolvierte an diesem Abend souverän ein umfangreiches Leseprogramm. Die meisten ihrer vorgetragenen Texte, nicht nur die neunundvierzig Gedichte, sondern auch die drei Prosastücke, zeichneten sich durch prägnante Kürze und Zuspitzung, alle aber durch eine präzise Sprache aus.
Die im ersten Teil vorgetragenen Gedichte entsprachen am ehesten der in der Ankündigung genannten „subkutan surrealen Erfahrung“. Sie trugen Titel wie ‚Raureif‘, ‚Unterwelt‘ oder ‚Traumfalten.‘ Sie erinnerten in der Tat an Traumfragmente, beinhalteten widersprüchliche Bilder, evozierten wohlbekannte Idyllen, z.B.; – nachts blühen die Zitronen, um diese dann in der nächsten Zeile sofort wieder zu kassieren: singen gepiercte Reifröcke hässliche Lieder. Diese poetische Technik und Formulierungen wie Schneehalm morscht wider Willen oder stakkatoartik untereinander geschriebene Wörter wie Hummertür / Mondbein / Brautschamott provozierten eine interessante, auch kontroverse Diskussion über die Frage der ‚Verständlichkeit‘ und ‚Sinnhaftigkeit‘ solcher Texte. Es wurde unter anderem auf die poetischen Techniken der Fragmentierung, Collagierung, Disruption verwiesen.
Ihre Kurzgeschichte Abendblum warf nicht weniger Fragen auf, verwandelte sich darin doch die der Erzählerin an sich unbekannte Nachbarin, von der man nichts wusste, gegen Ende in einen leidenden Christus (dokumentiert durch ein Wundmal an der Hand und einen Haarkranz, der eine Dornenkrone hätte sein können) oder jedenfalls eine Imitation davon. Aus ihrer Wohnung flogen, als man später die Tür aufbrach, Kanarienvögel. Über deren Symbolik wurde länger diskutiert. Im Übrigen war die Geschichte nicht weiter aufzulösen und musste für sich wirken.
Die weiteren von der Autorin vorgetragenen Gedichte erzählten meist kleine Geschichten oder ähnelten wegen ihrer Kürze oft Aphorismen: Finster ist die Nacht ist finster. / Und doch leuchten die Sterne. Sie trugen Titel wie: Shit happens, Urne, Zauberin, aber auch Ravioli oder Orvieto. Das Publikum konnte sich mit dieser Art von Texten eher anfreunden, weil sie abgeschlossene Begebenheiten beinhalteten und daher für leichter ‚verständlich‘ gehalten wurden.
Die beiden Prosastücke In der Schwebe und Braut Gottes wurden von der Autorin im Ablauf des weiteren Vortrages zur ‚Auflockerung‘ zwischen die vielen Gedichte platziert und bedienten sich wieder geschickt der Technik der leichten Verrätselung. Im ersteren ging es um das Verhältnis eines alten Mannes mit Rollator zu einem Pudel. Zuletzt tritt der Mann nach dem Hund und fällt hin. Er blickt gen Himmel. Das Ganze hat womöglich im Park eines Krankenhauses gespielt. Sicher ist das aber nicht. Die Braut Gottes ist ein Schulmädchen, welches davon tagträumt, eine weiße Braut Gottes zu sein. Auf den weißen Zebrastreifen einer Straße springt sie hin und her, bleibt in der Mitte auf einem weißen Balken stehen, wird von einem Auto überfahren und sieht sich im Krankenhaus von der Decke tot im Krankenbett liegen.
Den Schluss der Lesung bildete das Gedicht Urne, welches mit den beiden Zeilen Stille. / Das Universum träumt endete und ihr damit einen würdigen Abschluss gab. Vom Publikum kam allgemeiner, längerer Beifall für diese gelungene und überzeugende Vorstellung, bevor sich alles um 22:00 Uhr auflöste.
Abendbericht: Ulrich Schäfer-Newiger
Fotos: Jannette Hofmann