Wölfe, Kojoten, Axolotl – Abendbericht vom 19. September 2025

Franz Oberhofer las aus seinem Gedichtband Little John und verwandelte das Literaturbüro in einen mythischen Resonanzraum.

Natürlich begann alles dort, wo es immer beginnt: in Haidhausen… und es war ein ungewöhnlich milder Herbstabend in München, einer jener Abende, die der Stadtluft das heikle Versprechen hinzufügen, man könne noch draußen sitzen, anstatt sich – im übertragenden Sinne – zu einer geschlossenen Veranstaltung, einer Lesung gar zu begeben. Das Literaturbüro in Haidhausen war vermutlich deshalb an jenem Abend, von dem hier die Rede sein soll, nicht bis auf den letzten Platz gefüllt. Doch gerade diese Intimität verlieh der Veranstaltung eine besondere Dichte.

Gleichwohl sind Lesungen stets ein schweres Geschäft, und Lyrik-Lesungen verschärfen diesen Zustand ganz erheblich: Hier gibt es keine Handlung, die einen trägt, keine Romanfiguren, die das Zuhören erleichtern. Lyrik verlangt Aufmerksamkeit, Bereitschaft zur Mitarbeit, zum Eintreten in fremde Bilder und Rhythmen. Wer an diesem Abend gekommen war, wusste darum – und wurde von Franz Oberhofers Gedichten reich belohnt.

Es war ein Abend, der die Stimmen und Vielgestalten der Tiere hörbar, lesbar machte. Oberhofer, Jahrgang 1961 (aus Landsberg im notorisch pittoresken Oberbayern), las aus seinem noch unveröffentlichten Gedichtband Little John (Manuskriptform, entstanden über mehr als ein Jahrzehnt) – einem Werk, das Tiere nicht beschreibt, sondern sie in mythische, existentielle Rollen verwandelt. »Ich will Texte schreiben, die stören. Nicht laut, sondern tief im Inneren«, hatte er im Gespräch mit dem Chronisten zuvor betont. Und tatsächlich: Die Lesung war kein literarisches Wohlfühlprogramm, sondern eine poetische Störung, die nachhallte.

Mit Ich, der Wolf entfaltet der Autor eine poetische Archäologie der Wildnis, verschränkt er archaische Bildwelten mit historischer Faktizität. Der Wolf spricht selbst, als uralter Begleiter des Menschen, zugleich Opfer und Überlebender. Zahlen von Rudeln und Paaren stehen neben kosmischen Metaphern (»Augen – Splitter geborstenen Himmels«). Er erinnert an Ausrottung und Trophäenjagd, doch ebenso an seine Rückkehr – mit nüchternen Zahlen von Rudeln und Paaren, welche die mythische Stimme gewissermaßen erden. Der Wolf – präzisiert als geologisches Bild (»Weisheit des Basalts«)  – erscheint als Gestalt des Unbekannten, Wanderer zwischen Natur und Kultur. Er ist zugleich Schattenfigur und Erinnerungsträger, ein Echo, das die Zivilisation nicht zum Schweigen bringen konnte. So wird das Gedicht zu einer mythisch-ökologischen Allegorie auf Verdrängung und Wiederkehr alles Wilden.

Besonders lebhaft wurde die anschließende Diskussion, als die Formulierung »Windes-Arien« (aus Ich, der Wolf) von einer Zuhörerin kritisch hervorgehoben wurde. Die Zuhörerin wies darauf hin, dass der Begriff fast tautologisch wirke: Das griechische aér bedeute bereits Luft, im Neugriechischen sogar Wind. Eine »Arie des Windes« sei also eine Dopplung. Oberhofer nahm den Einwand ernst, verwies aber darauf, dass gerade diese klangliche Überfülle gewollt sei – die Verstärkung, die Übertreibung, das Pathos. In diesem kleinen Disput spiegelte sich das, was den Abend insgesamt auszeichnete: Sprache nicht als glatte Oberfläche, sondern als Widerstand, Reibung, Resonanz.

Den zweiten Schwerpunkt des Abends bildete Little John, jenes Gedicht, das Oberhofers Band den Titel gibt. Darin begegnet er dem Kojoten aus Joseph Beuys’ legendärer Performance I like America and America likes me (1974). Der Text ist mehr als eine lyrische Reminiszenz: Er zeichnet den Kojoten als mythischen Trickser, als Überlebenskünstler der Moderne, »sein Fell gegerbt vom Rauch der Städte«. Ein Platzhalter in Galerie und Prärie, in Kunstgeschichte und Mythos – das Bild des Tieres, das sich den Bruchlinien der Zivilisation anpasst. Der Kojote ersetzt den Wolf, bleibt nervös, listig, widerständig… und er wird so zum Sinnbild einer Kunst, die nicht schließt, sondern offen bleibt. Die explizite Widmung an Joseph Beuys zeigt, dass Oberhofers poetisches Verfahren im erweiterten Kunstbegriff Beuys’ wurzelt: Kunst als Prozess, als Frequenzverschiebung und Aussöhnung, als Eingriff in die kulturelle Ordnung. Der Kojote wird hier zur Schnittstelle von Performance, Mythos und Ökologie; gleichzeitig zeigt der Autor ihn als Figur des Übergangs: zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Beuys und den Geistern Amerikas.

Der dritte lyrische Text, der hier hervorgehoben und entsprechend eingehender betrachtet werden soll, ist Axolotl: Der Text ist knapp, fragmentarisch, in freien, rhythmisierten Zeilen. Er entfaltet sich weniger als kohärente Erzählung, sondern als ein beschwörender, fast Litanei-artiger Monolog. Zentral sind die Bilder des Axolotls: Schleim, Kiemen, embryonaler Rest, Regeneration, Nicht-Werden, ewige Latenz. Das Tier wird als Chiffre für einen paradoxen Zustand beschrieben: Leben ohne Entwicklung, „embryonal und endgültig“ zugleich. Oberhofer konstruiert hier eine Art Negativ-Genesis, in welcher der Axolotl zum Bild für eine Schöpfung gerinnt, die nie aufhört embryonal zu sein, eine Schöpfung ohne Vollendung. Damit (be-)schreibt der Autor (zugespitzt formuliert) eine Biotheologie der Stagnation, jenes Tier also, das ewig in seiner Larvenform bleibt, wird zum Symbol für eine Welt, die sich weigert, Ziel und Form zu erreichen. Als Vergleichsachse könnte Julio Cortázars Axolotl (1956) dienen: Dort findet sich ebenfalls die Projektion menschlicher Existenz auf das Tier, das allerdings im Aquarium betrachtet wird. Doch wo Cortázar die Verschmelzung Mensch-Tier als Transzendenzerfahrung beschreibt, bleibt Oberhofer in der (zweifellos relativen) Negativität – der Axolotl ist kein Portal, sondern ein hermetisches, abweisendes Wesen.

Nun, die Auswahl von lediglich drei Texten zur Analyse einer umfangreicheren Lyrik-Lesung ist methodisch nachvollziehbar, und zwar insofern, dass eine eingehende Interpretation stets exemplarisch verfährt und sich auf einen begrenzten Korpus stützen muss. Zugleich birgt eine solche Reduktion jedoch die Gefahr, das Spektrum der poetischen Verfahren und thematischen Variationen nur unzureichend abzubilden. In diesem Sinne ist die Auswahl zwar notwendig, aber in gewissem Maße auch problematisch, da sie das Gesamtwerk möglicherweise in unzulässiger Weise verkürzt. Daher muss als Fazit gelten: Drei Texte vermitteln einen Eindruck, niemals jedoch das Ganze. Sie öffnen ein Fenster, aber sie sind nicht das Haus.

In vorgenanntem Haus eröffnet Oberhofers Lyrik einen Raum, in dem Tiere zu mythischen und ökologischen Gegenfiguren der Moderne werden. Seine Texte sind nicht deskriptiv, sondern performativ: Sie unterbrechen den Alltag, irritieren und öffnen Resonanzräume. Damit positionieren sie sich zugleich im Kontext einer zeitgenössischen Tierlyrik (vgl. Jan Wagner) und in der Tradition der experimentellen Mythenpoetik (Bachmann, Mayröcker).

So stand dieser Abend (einzigartig, weil er im Moment seiner Vergänglichkeit unwiederholbar wurde) ganz im Zeichen einer poetischen Verwandlung: Tiere wurden zu Symbolen für Widerstand, Verweigerung und (paradoxerweise) Anpassung. Am Ende bleibt ein Echo – Bilder u. a. von Wolf, Axolotl und Kojote, die größer sind als ihre zoologische Gestalt. Eine Lesung, welche die Zuhörer nicht entließ, sondern ihnen eine Wunde zeigte: die Kluft zwischen Natur und Kultur, die Oberhofers Poesie offenlegt.

Und wer sich nach diesem Abend weiter in diese Welt hineinlesen möchte, muss sich nur noch ein wenig gedulden: Der Gedichtband Little John erscheint im Juni 2026 im Münchner Signum-Verlag.

Bericht: Christian Dörge
Foto: Doris Spang-Oberhofer