Gelesen im MLb am 21.02.2020
Dem Motto weniger Töne folgen
wie sie im Anheben
stocken
suchen
wahrnehmen
lebendig werden
mit uns spielen
mit unserem Kummer,
mit unserer Freude
dem Schmerz
Dann Kampf
Resignation
ein Augenblick des Innehaltens:
…die kalten Hände
am Kachelofen wärmen!
Glücklicher Zitherklang!
Schon wieder
in der Ferne
Grollen
Mühsames Sich-Neu-Gebären
Verzweiflung
ein alles in Finsternis
reißender Lavastrom
Danach schwirrend schwankend
ein mandolinenhafter Drei-Ton-Rest
beginnend
sich ins Hochgebirge
von Vernunft und Erkenntnis
streckend
bis wilde Fanfaren künden
vom Zenit
vom Gipfel
und Loren voll Töne
lustvoll
gegen Wände fahren
Staubwolken
ein Glucksen
aus der Ferne Hörnerklang
Zeitloch von dunklen Posaunen
Slow-Motion-Apokalypse
Darüber
die ins Mark stechende
Entschlossenheit
einzelner, herausgeschleuderter
Streichertöne
Plötzlich sind wir im Himmel von Endenich
die Heilanstalt als Vision
sich nach oben schraubender Klavieroktaven
Killmayer neben Schumann sitzend
Ihr Spiel
ein vierhändiger, geheimer Code
Gemeinsam und gnadenlos
geht der Blick nach Innen
beißt sich fest
an fünf dünnen Linien
Auf einmal zuckt der Arm
wischt übers Notenpapier
Am Boden liegend
hätte es auch ein Luftstoß
sein können
Das Fenster stand
Vorgeschlagen und begründet von Ulrich Schäfer-Newiger
Der Autor, der als Komponist und Musikpädagoge arbeitet, hat mit diesem Text versucht, es einmal anders herum zu machen: nicht einen Text zu vertonen, sondern ein Werk der Tonkunst zu versprachlichen. Dieses poetische Experiment ist ihm m.E. gut gelungen. Es handelt sich um die 3. Symphonie des Komponisten Wilhelm Killmayer, mit dem Titel „Menschenlos“. Nicht jeder wir sie kennen. Man kann sie hier auf Youtube hören: https://www.youtube.com/watch?v=OLRaLdDV3DQ
Das abrupte Ende des Textes entspricht dem abrupten Ende der Symphonie, ein Ende, welches den Tod Schumanns in der Heilanstalt Endenich bei Bonn symbolisieren soll.