Die Lesung von Lutz Landwehr von Pragenau war gleich aus mehreren Gründen ein „Highlight“ der bisherigen Freitagslesungen 2020. Zunächst einmal war das Literaturbüro von Besuchern übervoll, was, wie der Kenner weiß, nur selten vorkommt. Zum anderen, auch das soll einmal erwähnt werden, funktionierte die neue Technik (mit Beamer, damit die Gedichte mitgelesen werden konnten) auf Anhieb. Vor allem aber boten die Texte des Autors genügend guten Anlass, ernsthaft, vernünftig und pointiert über einige Essentials der Lyrik zu diskutieren. Zum Beispiel über die Umsetzung des Wahrgenommenen (und ggf. dann – auch politisch – Reflektierten) in stimmige, überzeugende Bilder und Metaphern. Und schließlich war der Autor souverän genug, seine Texte überzeugend (zum ersten Mal öffentlich!) vorzutragen und auf auch vielleicht unerwartete Einwände und Hinweise, sachlich und begründet zu reagieren.
Wer, wie der Autor, als Deutscher mit auch tschechischen Vorfahren, Städte wie Pilsen, Franzensbad, Pilsen, Cheb, Marienbad usw. besucht und sich der Geschichte dieser Orte bewusst macht, begibt sich als Lyriker auf unvermeidbar vermintes Gelände. Der Autor schaffte das z.T. ohne poetologische Blessuren. Zum Beispiel im Gedicht Stippvisite Pilsen . Darin berichtet einerseits sachlich, wie er z.B. in der Buchhandlung Dum Knihy einen Fotoband über den SS – Obergruppenführer Frank in den Händen hält, dessen Bekanntmachungen über Erschießungen, Standgericht usw. er als einziges problemlos und flüssig lesen kann. Und wo die zweitgrößte Synagoge Europas noch steht und nicht angezündet wurde, weil in ihr deutsche Uniformen geschneidert wurden und er in den Opferstock eine Münze einwirft. Der Autor gelangt in subjektiven Einschüben von der Überzeugung „etwas in mir will umkehren“ über „Etwas in mir sagt nein“ und „Etwas in mir gibt die Hoffnung nicht auf“ bis zu der Erkenntnis „Etwas in mir will auf keinen Fall umkehren“ . Objektive Beschreibung und subjektive Reflexion hielten sich hier auf diese Weise gut die Waage. Im Gedicht ‚Cheb – Eger‘ gelang die Umsetzung des Erfahrenen in ein lyrisches Bild nicht vollständig. Der Autor wollte, wenn denn Städten ein Friedensnobelpreis verliehen würde, diesen nicht nur Belgrad und Beirut verleihen, sondern auch Cheb – wegen seiner zwischen Tschechen und Deutschen hin und her gerissenen Geschichte. Das Szenario eines Friedensnobelpreises an Städte stieß bei den Kritikern im Publikum ganz überwiegend auf Ablehnung, was recht eingehend diskutiert und begründet wurde. Weitere, längere Diskussionsanlässe boten z.T. ‚abgegriffene‘ oder unklare Formulierungen wie „kalte, etwas tote …Stadt“ oder „im Flatterflug von Langeweile und Gelassenheit.“
Der Autor ist Komponist und Musikpädagoge. Und wagte daher den Versuch, nicht nur Gesehenes, sondern auch Gehörtes, Musik also, in Sprache zu verwandeln. Gleichsam als eine Art Vehikel diente ihm dazu die Person seines Lehrers, des Komponisten Wilhelm Killmayer (1927 – 2017), über den er zunächst zwei Texte vorlas (Gedicht und Prosa, beides durch den Tod dieses Lehrmeisters veranlasst). Sodann und zuletzt trug er (wie alle Gedichte zweimal) seine Verwörtlichung der 3. Sinfonie Killmayers (mit dem Titel „Menschenlos“) vor. Dieses Experiment war nicht nur nach Meinung des Berichterstatters, sondern auch des Publikums, voll gelungen. Keine kritischen Anmerkungen, sondern: Langanhaltender, mehrfacher Beifall.
Bericht von Ulrich Schäfer-Newiger