Wieder sehr gut besucht – in bester Tradition – war dieser 4. Lyrische August, trotz meteorlogischer Hitze und Schwüle. Und die Erwartungen des interessierten und begeisterten Publikums wurden nicht enttäuscht. Die Autorinnen und Autoren, die in der Reihenfolge Gabriele B. Hartl, Philipp Létranger, Tanja Wagner, Mathilda Gulbins, Nikolai Vogel und Heide König ihre zum Teil sehr dichten und themenreichen Texte darboten, garantierten Diversität, Vielfallt, Überraschungen, Spannung, Neues und auch – scheinbar – längst Überholtes in neuem Licht. Es gab jeweils langanhaltenden und auch vielfach Zwischenbeifall.
So trug die Letztgenannte, Heide König, auf dem Boden der Bühne mit einer Flasche Enzian sitzend, eigene Texte (z.B. Enzian) vor und solche der arabischen Dichterin Qasmȗna bint Ismȃil, die in Andalusien des 11. Jhdts. lebte, im Original, im fließenden Arabisch also, und sodann in eigener deutscher Übertragung oder auch „Nachdichtung“, wie die Autorin meinte, allerdings in strenger altgriechischer Metrik.
Zuvor hatte Nikolai Vogel „Anthropoeme“, wie er sie nannte vorgetragen, wobei „vorgetragen“ nicht der richtige Ausdruck ist. Seine Gedichte „geschahen“, sie kamen ähnlich alttestamentarischen Geboten, Sprüchen, Zornesausbrüchen laut, überbetont, oder auch leise, und gleichsam tanzend, über die Zuhörer und entfalteten mit ihrer Zivilisations- und Menschenkritik, Sprach- und Kommunikationskritik, nicht unironischen Zukunftsphantasien, eine eigenartige, sogartige Wirkung (z.B.: Alles vergeht. Oder: die als Litanei hinausgeschriene Liste dessen, was alles ankotzt). Hier war ganz zweifellos ein großartiger, erfahrener Meister der Sprech-Performance zugange, der seinen Texten damit einen besonders ausdrucksvollen Charakter verlieh.
Vor ihm hatte Mathilda Gulbins ein ganz in traditioneller Manier geschriebenes Langgedicht, fast ausschließlich in Kreuzreimen verfasst, vorgetragen. Gerade weil diese Form aus der Zeit gefallen zu sein scheint, offenbarte der Text dadurch einen eigenartigen Charakter und seine gegenwärtige poetische Gültigkeit. Inhaltlich handelte es sich in vieler Hinsicht um eine Art Entwicklungsgedicht. Die Ich-Erzählerin versetzte sich einmal sogar in einen Kamikaze-Piloten, ein gekonnter Gegensatz zu manchen idyllisch anmutenden Szenen, welche die Erzählerin sprachlich skizzierte.
Begonnen hatte der Abend mit dem bemerkenswerten „Auftritt“ von Gabriele B. Hartl. ‚Auftritt‘, weil sie ihre Gedichte und Texte stehend und hin- und hergehend, auswendig und eindrucksvoll gestenreich vortrug und deklamierte. Gelegentliche Reime gehörten auch hier zur Schreibtechnik. Die Themen waren vielfältig, „lyrische Wegkreuzungen“, war eine der von der Autorin benutzte Bezeichnung. Vincent van Gogh und sein Bruder Theo, ein Gespräch, das an den Dialog Dantes mit Vergil in der Göttlichen Komödie erinnerte, die Zahl ‚7‘, „Mee Too“, Turners ‚Schneesturm auf dem Meer‘, Albrecht Altdorfers ‚Alexanderschlacht‘ oder eine alte Abtei, waren, neben anderen, Ausganspunkte und Hintergründe ihrer Texte.
Philipp Létrangers Gedichte zeichneten sich durch eine stets im Hintergrund bleibende, lakonisch-leise aber spürbare Melancholie aus. Eindrucksvolle Sprachbilder und Sprachkombinationen waren zu hören (präzise Geometrie des Vergänglichen, Die glatte Haut der Gespräche, Sommersprossenworte, Ich lege Dir mein Wort auf die Lippen); sie waren Teil der poetischen Reflexionen über die Befindlichkeit des Subjekts in der Gegenwart (Ich bin mit Stadtplänen aufgewachsen. Die Richtungen sind kaum mehr zählbar.).
Vor der Pause versorgte Tanja Wagner das Publikum aus ihrem kleinen, goldenen Büchlein mit gewohnt streng-rhythmisch durchkomponierten Gedichten, etwa jenes über den toten Wolf, in dessen Leib die Erzählerin am Ende hineinkriechen wollte. Schlaflos lese ich Gedichte, hieß es in einem Text. Die Sonne, Tomaten, Wahrheit oder Gott waren weitere Gegenstände ihrer meist kürzeren Gedichte. Müll verbrennt man mit Bomben von oben, wurde in einem Text empfohlen.
Alle diese sehr unterschiedlich-interessanten Beiträge mussten sich hier nicht weiter hinterfragen lassen oder rechtfertigen; sie erschienen und wurden wahrgenommen als jeweils neue poetische Welten, nicht nur durch Worte, Wortspiele, nicht nur durch Sprachkunst, sondern jeweils auch durch furiosen Klang, eindrucksvolle Gebärden und je individuelle Ausdrucks- und Artikulationskunst. So gab es am Ende noch einmal langanhaltenden, berechtigten Beifall für die Autorinnen und Autoren und diesen insgesamt eindrucksvoll-besonderen Abend. Danach noch Diskussionen, Zwiegespräche, fröhlicher Austausch übers Schreiben, Lesen und Hören.
Abendbericht: Ulrich Schäfer-Newiger
Fotos: Jannette Hofmann