Das Thema „Kälte“ bescherte dem Münchner Literaturbüro einmal mehr ein volles Haus. Sieben der Anwesenden trugen Gedichte und Prosatexte vor.
Den Reigen eröffnete Gabriele B. Hartl mit einem gewohnt souveränen Vortrag von 5 Gedichten – auswendig, stehend, ausdrucksvoll, auch mit Gesten, betonend -, die sie jeweils zweimal vortrug. Von der Kalligraphie der Bäume hörten die Zuschauer (im Gedicht Lob des Winters) und von klirrendem Licht (im Gedicht Im Packeis). Erstarrt sind Gebet und Fluch in der frostigen Luft, hieß es im Gedicht Im Packeis. Auch in den Gedichten Trotzdem und Nie tun wurde die Kälte berührt. Gelobt wurden in der Diskussion der eindrucksvolle Vortrag und die stimmigen Bilder in den Gedichten.
Veronique Dehimi las eine Szene aus ihrem Roman Leg dich zu den Wölfen. Sie spielte während einer bitterkalten, sternklaren Nacht bei Nomaden in der Mongolei. Die Erzählerin musste hinaus aus der Yurte, um Pipi zu machen. Dieser Vorgang auf der Erde stand in bewusstem Kontrast zu dem, was die Erzählerin dabei über sich sah: des Himmels Wölbung wie ein Diadem. Es ging der Autorin um diesen Moment, um diesen einen nachtblauen Augenblick des Ergriffenseins vom Anblick des Sternenhimmels. Ich gewinne mich, indem ich mich verliere, hieß es an einer Stelle. Aber der Moment währte nur, bis die Physik ihn wieder aufhob in Gestalt der Kälte, die Erzählerin zurück in die Yurte trieb – um sich dick anzuziehen und wieder hinauszugehen in die Sternenhimmelkälte. In der Diskussion wurde vor allem die Beschreibung des magischen Momentes gelobt.
Eine, wie der Autor sie nannte, sogenannte wahre Geschichte, literarisch aufgearbeitet, trug Herbert Hollitzer vor. Nahtoterlebnis betitelte er sie. Sie spielte in einer Intensivstation eines Krankenhauses, in dem ein frisch operierter Patient lag, ständig Blut verlor und zu sterben drohte. Der betrachtete sich in dieser Situation von oben, sein wacher Geist schwebte unter der Decke. Mit trockenem Humor gab er die Diskussion wieder von Pflegern, Schwestern, Assistenzarzt, Oberarzt und schließlich des noch hinzukommenden Chefarztes, der operiert hatte und versicherte, er habe gewiss keinen Fehler gemacht. Alleine die Oberarztbemerkung „Mit Verlaub“ brachte den Chefarzt in einen Zustand beleidigt-agressiven Betroffenseins. Dabei ging es um das Leben des Patienten, der am Ende der Geschichte wieder langsam in seinen Körper zurückschwebte. Gelobt wurde in der Diskussion die trocken-sarkastische Darstellung der zynischen Ärztehierarchie, die durch die kurzen Dialoge der Beteiligten wunderbar zum Ausdruck kam.
Aus seinem Romanprojekt mit dem Titel Der Vergebung nahe las Patrick Erdmann eine Szene, die in einem psychiatrischen Krankenhaus spielt, was sich aber erst nach und nach für den Zuhörer erschloss. Der Protagonist, ein Patient in dieser Klinik, wurde in einem leeren Zimmer, von einer der Ärztinnen auf einem Tisch vergewaltigt. Die Erzählung kreiste um den inneren, subjektiven Zustand des Protagonisten, seine Selbstzweifel, seinen Selbstbefragungen, seiner Schwäche, seinem Ärger darüber, dass er keinen Widerstand geleistet hatte, während sie sich in Ekstase befand. Gelobt wurde in der Diskussion die eindringliche Sprache, die sich vor allem dadurch auszeichnete, dass es dem Autor klug gelang, aus einer auktorialen Erzählperspektive heraus eine personale, subjektive (Selbst)Wahrnehmung des Protagonisten darzustellen.
Die Erzählung Kill them all von Elisabeth Lösl spielte an einem kalten, grauen Herbsttag, in welchem der depressive Ich-Erzähler auf der nassen Straße eine nur noch teilweise lesbare Visitenkarte findet, auf der lediglich noch eine Telefonnummer und die Bezeichnung „Kill them all“ lesbar sind. Daraus entwickelt die Autorin nun ein spannendes Netz von verstrickten Fantasien des Protagonisten, in dem sich die feste Überzeugung herausbildet, es handele sich um einen professionellen Killer, der seine Karte verloren habe. Der könnte doch von ihm den Auftrag erhalten, ihn selbst zu ermorden. Nach längerem gedanklichen Hin und Her ruft er an und hat einen Kammerjäger an der Leitung. Große Enttäuschung und zustimmendes Gelächter im Publikum über diese überraschende, wenn auch nicht ganz unvorhersehbare Wendung.
Günter Mitschke erst griff das Thema Kälte wieder direkt auf in seiner Groteske mit dem Titel Death Valley. Es handelte sich um einen geharnischten Protestbrief einer Reisegruppe aus Mann und Frau, die beim Reisebegleiter dagegen protestierten, dass er mit ihnen nicht ins Death Valley fahren wollte. Wir wollen doch der Kälte eine Nase zeigen, begründeten sie ihren Protest. Der kurz und prägnant vorgetragene Text erntete zustimmende Heiterkeit.
Auch das von der Autorin Annette Katharina Müller so bezeichnete, sich reimende „Nonsensgedicht“ über einen Spaziergang im Westpark wurde positiv quittiert. Ein Nonsensgedicht sei das allerdings keineswegs, wurde geurteilt.
Am Ende langanhaltender Beifall für alle Autorinnen und Autoren Der Berichterstatter fand das metaphorische, symbolische, allegorische Potential des Begriffes „Kälte“ aber nicht ganz ausgeschöpft.
Abendbericht: Ulrich Schäfer-Newiger
Fotos: Simone Kayser