Zeitspiegelungen, Leben – Lesung am 17.1.2020

Dass dies ein Bericht sein soll von einer Lesung im Münchner Literaturbüro in der Milchstraße 4, ist eher unwahrscheinlich, wenn es nach dem Autor Ulrich Schäfer-Newiger geht, der angeblich gesehen wurde, wie er vier seiner Kurzgeschichten an diesem regnerischen Winterabend vortrug. Die erste mit dem Titel „Nachtschwärmer“ greift ein berühmtes Gemälde von Edward Hopper auf und schildert die Selbst- und Zeitzweifel eines angeblichen Nachtportiers, der sich möglicherweise mit einem einsamen Besucher unterhält, vielleicht aber doch nur mit sich selbst. Die gezielten Wiederholungen und Satzdrehungen mit denen der Autor sich immer tiefer in das zarte Holz seiner Erzählung hinein schraubt, wurden vom Publikum teils bewundernd, teils skeptisch verfolgt.

In seiner zweiten Erzählung „Das Manuskript“, so sie denn stattgefunden hat, spielt der Autor mit Zitaten aus Romanen und einer Bachmann – Preisverleihung und bringt Künstliche Intelligenz bis zu dem Punkt, an dem sie nahezu erfolgreich versucht, auch Romane zu verfassen – ein Androide scheitert aber dabei, seinem menschlichen Literaturagenten ein 400-Seitenwerk anzubieten – der Tod „echter“ menschlicher Autoren scheint abgewendet. Wobei fraglich bleibt, wo genau die Grenze zwischen Mensch und Roboter eigentlich noch verläuft.

Nach einer kurzen Pause trug der Autor, so er es denn war, die Story „Die Indigestion“ vor – ein Gustostückerl über das Kotzen, den Welt-Ekel und vor allem den Graus vor Beziehung und Fußball, welch Letzterer geradezu als Inbegriff des Stumpfsinns herhalten durfte. Rosemarie, die von der Seite her wieder und wieder die Toiletten-Spülung betätigte, kam nicht an gegen das Nietzsche-Zitat des vor der WC-Ellipse Knienden, betreffend die Unverdaulichkeit deutscher Kultur und erteilte dem philosophisch gebildeten Ungast und Ex-Lover schließlich entnervt Hausverbot. Das Publikum musste hin- und hergerissen sein zwischen Begeisterung und Würgereiz. Aber, zweifellos gut erzählt, das war dies Stückerl schon!

Was auch für die Abschlussgeschichte „Hotel Mozart“ galt, in der es eher statisch zuging, denn „Zeit“, so suggeriert die Story, läuft nur dort, wo auch Bewegung ist. Eindringliche Wiederholungen, Konjunktive, fahles Licht, blätternde Wände und das unaufhörliche Geräusch eines Wassertropfens begleiten das mutmaßliche Warten eines Mannes auf „drei andere“, mit uraltem, „erinnerungslosem Gesicht“. Hallo, Herr Tod persönlich, mochte man meinen. Exakte Beschreibung von Bad und Bett steigert das Gefühl der Aussichtslosigkeit, versucht den Augenblick festzuhalten so exakt wie möglich aber doch: vergeblich.

Wäre das Wirklichkeit, so könnte es doch nicht (mehr) lange währen. Das Publikum: Zu Recht sehr angetan, reichlich Applaus, und dem günstigen Rotwein wurde ebenfalls beherzt zugesprochen: Das Leben.

Bericht von Wolfram Hirche