Gelesen im MLb am 14.2.2020
Am späten Morgen läutete es an der Tür. Unwillig hob ich den Blick von meinen Büchern und schaute aus dem Fenster, wohl wissend, dass ich vom Hochparterre die Haustür gar nicht sehen konnte. Gerade hatte ich jenes lang gesuchte Zitat im Don Quijote zu Dulcinea gefunden, das perfekt in meine Seminararbeit Leerstellen der Imagination in der Prosa des 17. Jahrhunderts zu passen schien. Die Ablenkung kam mir ungelegen. Schneller als mir recht sein konnte, rückte der Abgabetermin näher, darum genehmigte ich mir einen Studientag zu Hause, an dem ich meinem Aufsatz den letzten Schliff geben wollte. Ein pointiertes Zitat konnte ein Aha-Erlebnis erzeugen, was die Notenvergabe vorteilhaft beeinflussen mochte. Ich erwartete niemanden, meine Kommilitoninnen saßen in diesem Augenblick in einem Seminar oder einer Vorlesung.
Das Klingeln ertönte erneut, eine Spur zu lang und zu fordernd, um eine zufällig in der Nähe befindliche Bekannte anzukündigen, eher schon irgendeinen Kurierdienst, das wäre möglich. Der Postbote konnte es auf keinen Fall sein, er hatte zu seiner gewohnten Stunde unser Haus mit seinem eigenen Schlüssel betreten und für die über uns Mitwohnenden etwas eingeworfen. Schon früh am Schreibtisch, hatte ich ihn gehört. Die Art, wie er die reichverzierte Holztreppe hinauf- und wieder herunterstapfte, ihren gediegen gefertigten, tief gearbeiteten Stufen ein leichtes Beben abtrotzte, tönte vertraut. Im Klang lang gewusster Geräusche hatte mein Ohr gemeldet, bei wem er Post in den visierbreit geöffneten Briefschlitz eingeworfen hatte. Das scheppernde Echo der zufallenden Klappe verriet es. Auch der Zeitungsbote, der sich ebenfalls im Treppenhaus bewegte, um die von der Wohngemeinschaft abonnierten Tages- und Wochenzeitungen vor die Türen zu legen, hatte ich, im Morgengrauen halbschlafend noch, niedrigschwellig registriert. Das Treppenhaus war das verschwenderisch offen gestaltete Zentrum der Villa. Es schien, als hätte der Architekt sämtliche Zimmer um es herumgeplant. Als Organkammern oder Aussackungen gingen sie Hohlräume bildend ab, blieben dennoch verbunden mit jener spinalen, in sich gedrehten Achse, deren Holzstufen wie Wirbel eines mächtigen Rückgrats in die Höhe wuchsen. 1902 für eine einzige Familie entworfen, hatte die Villa ohne jeden Kriegsschaden fast ihren ursprünglichen Zustand bewahrt. Nur der Speisenaufzug war aufgefüllt worden, seit das Kellergewölbe an eine Bioweinhandlung vermietet worden war, und der Schacht auf unangenehme Weise Zugluft in die Verkaufsräume wehte. Wir, zwei WG-Freundinnen und ich, bewohnten die Bel Étage, vier Räume plus Küche und Bad. Jede von uns besaß ihr eigenes Zimmer, dazu teilten wir uns den Salon, den ein durch Steigleitungen unbrauchbar gewor-dener Kamin zierte. Der prächtig stukkatierte Salon diente uns Étagistinnen, wie wir zu sagen pflegten, als Debattierzelle. Wir definierten uns interdisziplinär. Philologische, humanwissenschaftliche, kunsthistorische und medizinische Diskurse waren stets willkommen. Dass jede von uns eine Fächerkombinationen gewählt hatte, die mindestens ein Fach der jeweils anderen berührte, war nur ein halber Zufall. So blieben wir leichter miteinander im Gespräch, erweiterten durch Vorlesen wie nebenbei unser Fachwissen.
Über uns wohnte Sybi, die Tochter unserer Vermieterin, gemeinsam mit ihrem Verlobten. Sybi hatte ihren Whatsapp-Status auf #baldMuF, #baldMannundFrau gesetzt, was Anlass zu einem spontan einberufenen Treffen gab, in dem wir bei einem Glas Wein zusammensaßen und im Salon diskutierten. Unser Rat für systemisches Konsensieren befand, dass sie das so doch heute nicht mehr schreiben könne und dass ihr Hashtag nur sehr bedingt als ironische Distanzierung vorausgesetzt werden dürfe. Wir debattierten, ob #baldFuM, also #baldFrauundMann emanzi-patorischer sei oder ob sich hinsichtlich der Machtverhältnisse praktisch nur die Zeichen tauschen würden, die Vorherrschaft des Mannes in Wirklichkeit aber ungebrochen bliebe. Die Mutter von #baldMuF, unsere Vermieterin, war eine engagierte Frau, deren verstorbener Göttergatte, wie sie das ausdrückte, ein ehemaliger Fabrikant, ihr mehrere Wohnstraßen in einer gar nicht mal so kleinen Stadt im Ruhrgebiet hinterlassen hatte. Weil Sybi, die Tochter, kompromisslos nur bei der Grand Dame der Italophilie an ebendieser Universität studieren wollte, hatte die Mutter kurzerhand die Villa gekauft und den Wünschen Sybis entsprechend aufgeteilt.
Mit der Zeit dämmerte uns, dass die Bel Étage nur dann als solche gelten könne, wenn man das Haus ganz für sich allein bewohnen dürfe, da alle Zimmer unmittelbar vom großen Treppenhaus abgingen und Eintretenden keinerlei Distanz gewährt wurde. Wer es in den Flur schaffte, war drin und, gleich welche der Türen auch immer geöffnet werden mochten, sie alle ließen einen direkten Blick auf mindestens zwei der Zimmer zu. Ursprünglich als offene Etage mit mehreren Salons geplant, blieben die Räume durch große Schiebetüren verbunden. Nur mühsam ließen sie sich abteilen. Ganz oben unterm Dach in den einstigen Mädchenräumen wohnte eine junge Familie mit zwei Kindern im Schulalter.
Es schellte ein drittes Mal und, weil meine Phantasie sich keinen Reim darauf zu machen wusste, wer zu dieser Stunde etwas von uns würde wollen können, betätigte ich den Drücker und öffnete die Wohnungstür. Eine Frau, jünger als ich, stand vor mir. Sie trug einen durchnässten Anorak und brachte die eiskalte Luft von draußen mit in den Flur. Sie fragte, ob ich an einem Zeitschriften-Abo interessiert sei und ob sie kurz reinkommen dürfe, draußen sei es eiskalt, außerdem könne ich mir da mein Angebot noch besser ansehen und sehen, wie viel ich sparen würde. Ich erwiderte, dass wir hier grundsätzlich nichts an der Tür kaufen würden und dass wir im Übrigen schon alle wichtigen Medien im Abonnement hätten, die meisten digital, log ich, worauf sie mit einem intensiven Blick, den ich als flehentlich deutete, ihre dicke durchfeuchtete Mappe hochhielt und ich ihre verfrorenen Hände sehen konnte. Ihr Augen musterten das Zimmer, ich merkte, dass sie wie alle, wir Étagistinnen eingeschlossen, über die hallenartigen Räume staunte und die vergleichsweise sparsame Möblierung musterte. Durch den grauen Tag lag ein mattes Licht im Raum, die Loggia mit ihren immergrünen Lorbeer- und Oleander-Hochstämmchen legte einen schwachen Schimmer auf die zwei Sessel und das Sofa. Alle Schiebetüren waren in den Wänden verschwunden, ich bildete mir ein, dass die offenen Räume zur Weitung meiner eigenen engen Gedankenwelt am Roman des 17. Jahrhunderts beitrügen. Innerlich verfluchte ich mich nun für diese geliehene Weite, und erkannte, dass es eine im Normalfall zwar praktische, nun aber höchst unbesonnene Angewohnheit war, Handy, Schlüssel und Geldbeutel neben der Tür auf dem Vertiko griffbereit feilzubieten. Meine Bequemlichkeit, nicht bis zur Haustüre vorgegangen zu sein, rächte sich. Was für ein Hohn, dass die schwere Haustür aus Eiche im oberen Drittel über ein kleines Miniaturfenster verfügte. Dieses ließ sich nur von innen öffnen und wiewohl dessen kleiner Riegel etwas schwer zu lösen war, funktionierte es grundsätzlich einwandfrei, wie uns Sybi am Tag des Einzugs eigenhändig vorgeführt hatte.
Sekundenschnell prüfte ich meine Optionen: a) Tür zudrücken und hoffen, die junge Frau möge von selbst verschwinden, b) mir ein Abo aufdrücken lassen und sofort danach von meinem 14tägigen Widerrufsrecht Gebrauch machen, c) sie bitten, sie möchte meine Absage respektieren, und sie mit einem munteren Viel Erfolg weiterhin! an die Haustüre zurückgeleiten.
Stattdessen hörte ich mich fragen, ob sie hereinkommen und einen Kaffee trinken wolle. Rasch fügte ich hinzu, das werde aber an meinem Entschluss, nichts zu bestellen, nichts ändern. Aus Sorge, sie könnte sonst was in der Wohnung an-stellen, während ich das heiße Wasser aufsetze, bat ich sie, mich in die Küche zu begleiten. Wir könnten uns dann besser unterhalten, säuselte ich, Unbekümmertheit vortäuschend. Wir kamen an der Garderobe vorbei und zu unserer beider Erstaunen reichte ich ihr einen Bügel. In der Küche deutete ich auf die Schränke mit den Bechern, dem Zucker und den Kühlschrank mit der Milch. Ich griff zum Kocher und bereitete den Filter vor, während sie auf einem Tablett das Geschirr zusammenstellte. Wir sprachen ein wenig, ganz schön nasskalt heute, ja und ziemlich dunkel, sowas in der Art. Plötzlich stieß sie aus sich heraus: „Ich bin gewohnt, im Dunkeln aufzustehen. Um vier musst ich da sein. Wenn der Meister einen von uns erwischt hat, wie der mal zu spät kam, gabs den ganzen Tag Scheißsprüche. Bäcker ist ein schöner Beruf, das Aufstehn war o.k. Aber dann kriegte ich Ausschlag, das hat wahnsinnig gejuckt, und wegen dem Mehl und wegen der Allergie konnte ich da nicht mehr hingehn und dann hab die Clique mit den Jungs kennengelernt, die draussen….“ Sie verstummte. Es war, als hätte sie etwas gesagt, was sie nicht hatte sagen wollen oder sollen. Ich stand betreten vor ihr, wusste immer weniger, wie ich mich verhalten sollte, daher deutete ich mit einer Kopfbewegung an, dass wir ins Wohnzimmer rübergehen könnten. Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa, vor uns die Kaffeetassen. „Wie heißt du eigentlich“, fragte ich? „Jenny“, meinte sie und verrührte den Zucker in ihrem Becher. „Viktoria“, sagte ich, alle nennen mich Vicky.“ Ihre Mappe mit den Unterlagen lag zwischen uns. Dann hörte ich mich sagen, dass ich von dieser Mehlallergie schon gelesen hätte, das sei so eine Art Berufskrankheit. Sie hätte da jetzt echt blödes Pech gehabt. Auch ich hätte schon einiges an Fachwechseln hinter mir, weil ich mich erst nicht entscheiden konnte und etwas ganz anderes erwartet hatte. Das sei doch nicht schlimm, quollen die Worte aus meinem Mund, wenn man noch am Anfang sei, könne man das doch so genau noch gar nicht wissen. „Doch“ entgegnete sie resolut, „ich wollte immer schon Brot backen und Brötchen“. „Und Konditorin, muss man da auch so viel mit Mehl hantieren?“ Ich erschrak über meine Sachfrage. Doch Jenny zuckte nur mit den Achseln. „Dafür braucht man ´nen Schulabschluss. Hab´ die Schule geschmissen“. Ihre Augen wanderten zur Mappe und zum Fenster. Der Graupel schlug prasselnd ans Fenster. Ich nahm einen weiteren Anlauf: „Die Typen da draußen, ich meine der Job hier mit der Mappe und das, das machst du doch freiwillig oder?“ Sie schaute mich an und sagte, dass sie jetzt auch mal wieder losmüsse. Auf meinen Einwand, das Wetter sei aber noch ziemlich schlecht, meinte sie, sie wäre ja gleich schon im Auto. Während Jenny zur Garderobe ging und ihre klamme Jacke anzog, griff ich in den Schirmständer, nahm einen Knirps heraus und drückte ihn ihr in die Hand. Dann sah ich sie im Flur Richtung Ausgang gehen. Als sie die schwere Eichentür schon in der Hand hatte, blieb sie stehen, drehte sich um und sagte: „In dieser Gegend sind seit kurzem falsche Spendensammler unterwegs. Sie tragen Westen vom Roten Kreuz, aber ihre Ausweise sind gefälscht.“ Dann öffnete sie die Tür, schob sich durch den schmalen Spalt und verschwand. Immer, wenn ich Menschen mit Signalwesten sehe, hoffe ich sie wiederzusehen. Ich hätte ihr so gerne die eine Frage gestellt.
Vorgeschlagen und begründet von Ulrich Schäfer-Newiger:
Es handelt sich um eine gelungene Variante des alten Problems Elfenbeinturm, in den die reale Welt eindringt, oder abstrakter: Geist versus Handeln oder: Lesen versus Leben. Schon der zweite Satz der Erzählung läutet dieses Thema ein. Und die besonderen Räumlichkeiten, der Elfenbeinturm eben, in denen dies geschieht, erhalten eine im Einzelnen durch deren genaue und genaueste Beschreibung gewichtige Symbolik. Die Sprache ist ganz gegenwärtig, auch wenn sie teilweise, wo es sein muss, unalltäglich, gelegentlich altertümelnd (‚Der prächtig stukkatierte Salon diente uns Étagistinnen, wie wir zu sagen pflegten‘) wort- und variantenreich ist und daher für den Einen oder Anderen widerspenstig sein mag. Man muss es merken: Da beherrscht und arbeitet jemand bewusst mit der Sprache. Es macht Freude, dieses Deutsch zu lesen (und zu hören), für mich vermutlich auch, weil sie mich hier und da an jene von Sibylle Lewitscharoff auch an die Sprache Christoph Ransmayrs erinnert.