Auch die 2001. Lesung seit Beginn der Lesezeitrechnung im Münchner Literaturbüro fand in digitaler Form statt und war gut besucht: Bis zu 17 Zuhörer und -seher*innen waren anwesend.
Der Autor Simon Gerhol und seine Mitvorleserin Andrea Schütt lasen elf, ausschließlich sehr kurze Texte (meist jeweils zweimal). Der Form nach waren es Prosaminiaturen, einige wenige Male waren lyrische Verdichtungen beim Lesen zu hören oder zu erahnen (mitlesen konnten die Zuschauer*innen die Texte nicht), jedenfalls bei dem Text mit dem Titel ‚Freiheit‘, in dem das Bild eines in den Lüften schreienden Adlers bemüht wurde. Die anderen Texte trugen Titel wie ‚Modernes Zeitunglesen‘, Impf-Fernsehen‘ oder ‚Der öffentliche Raum‘ oder ‚Zettelwirtschaft‘ u. ä. und enthielten allgemein-einfache, sprachlich unwiderständige Aussagen über diese jeweiligen Themen. Vielen Anwesenden war das aber zu wenig, „nicht überzeugend“, „nichts Neues“, „larmoyante Momente“, ‚nur einfache Alltagsmomente‘, ohne weitergehenden Hintergrund und ohne sprachliche Besonderheiten, so wurde moniert. Hingewiesen wurde aber darauf, dass in einigen Texten zumindest Reflexionen über die Sprache und die Sprachanwendung in der Gegenwart zu finden waren oder Wortspiele etwa mit dem smartphone-üblichen Befehl „Inhalte laden.“
Einer der elf vorgelesenen Texte war eine Story aus dem Gerhols Buch „Göttersprung“, welches im Münchner Salon-Verlag erschienen ist. Sie griff den Mythos des Beinahe-Welt-Zerstörers ‚Phaëton‘ auf und versetzte ihn in die Gegenwart, in der ihm vom Autor die Rolle eines Flugzeugpiloten zugewiesen wurde, der eine kurze, übliche Ansprache an seine Passagiere kurz vor dem Start hält. Damit endete die Geschichte überraschenderweise schon; die Zuhörer und Leser sollten sie sich selbst weiterdenken, meinte der Autor.
Der Vortrag und die jeweils kurzen Diskussionen waren nach ca. 1 Stunde beendet. Simon Gerhol gab daher noch eine Zugabe, nämlich aus seinem Götterbuch eine weitere kurze Story mit Aigistos, Klytemnestra und Konsorten, die in einen Kriminalfall in Athen (ein Agamemnon war tot in seinem Swimmingpool gefunden worden) verwickelt waren.
Offen blieb, ob mit diesen Gegenwartsgeschichten die Mythen selbst endgültig ermordet oder ihnen im Gegenteil neues πνεῦμα eingehaucht wurde.
Abendbericht von Ulrich Schäfer-Newiger