Confessin´my Blues / Dringender Bericht an den engeren Freundeskreis – von Peter B. Kramer

Gelesen in der Seidlvilla am 04.07.2020

Ich glaube an mich – nein, nein, so richtig doch nicht – oder doch? Ich weiß nicht – eher nicht.
Doch! Doch, doch, eigentlich schon! Ich glaube, ich glaube an mich – wenigstens manchmal, ein wenig glaube ich an mich, hoffe ich jedenfalls. Allerdings schleppe ich dann und wann einen ziemlich fetten Blues mit mir durch den Tag.

Diese bläulich eingefärbte, gedämpft-melancholische Laune habe ich aber nur an bestimmten Tagen. Es sind ganz spezielle Tage, diese nagenden Blues-Tage. Also, das sind Tage, da vergeht einem glatt der Appetit.
In solchen Phasen hebe ich trotzig die Tasse, kippe den aufheiternden Inhalt hinter den Kragen und spreche mir aufmunternd zu – manchmal hilft es – meistens jedoch nicht.
Wie auf Sneakern kommt er angeschlichen, der fiese, feiste Mister Blues. Und diese bluesgetränkten Tage kommen oft wieder. Manchmal am nächsten Tag schon. Sie wollen dann einfach nicht gehen. Tagelang kann das so gehen, tagelang kann so was mit mir geschehen.

In diesen dunklen Phasen höre ich oft Musik – am liebsten den guten, alten Delta-Blues.
Besonders aus Louisiana an der Mississippi-Mündung kenne ich eine Menge Blues-Musiker. Eigentlich möchte ich keinen dieser afroamerikanischen Troubadoure hervorheben, aber Robert Johnson, Robert Johnson mag ich zum Beispiel sehr.
Zu Lebzeiten hatte dieser Musikus und Luftikus einen Höllenpakt mit dem Teufel geschlossen, um dafür als Gegengabe vom Satan absolute Macht über die Gitarre zu gewinnen. Und tatsächlich. Nach dieser reichlich unorthodoxen Vereinbarung spielte der gute Mann plötzlich einen teuflischen Blues.
Auf seinen Samstagabend-Veranstaltungen quer durch das Dixieland war von da an schlagartig die Hölle los. Insgesamt schuf er neunundzwanzig göttliche Nummern, doch dann holte ihn, wie vertraglich vereinbart, der Teufel.

Die meisten anderen Blues-Veteranen aus dem Delta singen mit teils öligen und teils angerosteten Alt-Stimmen von ihren erotikdurchtränkten Weibern.
Meistens haben diese dominant-fatalen Frauen ihre Kerle betrogen und verlassen heimlich für immer das traute Häuschen. In den Tagen danach sitzt der schwer gebeutelte Mann zu Hause im Bett oder in seiner Bar oder auch in irgendeiner Bar und kippt Bier und Whisky in sich hinein.
Doch selbst der abgelutschteste Beziehungs-Blues heitert mich an meinen dunklen Tagen dann und wann ein wenig auf – manchmal minutenlang mitunter sogar noch etwas länger.

Ich selber habe keine geliebte und liebende Freundin, keine Lebenspartnerin, keine fest an mich gebundene Ehefrau, nicht einmal ein Verhältnis. So was wie den liederlichen, liedermachenden Blues-Pechvögeln mit ihren wilden Frauen kann mir also gar nicht passieren. Da habe ich natürlich leicht Lachen – wenigstens was das angeht.

Meine Blues-Tage haben auch noch eine andere gute Seite: An solchen Tagen kann ich wunderbar hassen, kann auch mich selber hassen, kann sogar mein eigenes Gehirn hassen:
Ständig produziert es Gedanken, immer wieder neue Gedanken, immer neuere Gedanken, oft ganz seltsame Gedanken, auch gemeine Gedanken, selbst so richtig fiese Gedanken finden sich hinter meiner Stirn ein. Ständig rennen sie hin und her, kommen blitzschnell, gehen blitzschnell, kommen blitzschnell wieder – es ist wirklich nicht ganz einfach, ein Mensch mit Gehirn zu sein.
Ab und zu sind unter diesem Wust auch sexualpornographische Gedanken. Manch einer würde sogar sagen sexualpathologische. Alles Mögliche kommt mir dabei in den Sinn. Aber dafür kann ich nichts. Vollkommen machtlos bin ich da. Ist einer dieser Unruhestifter endlich fort, kommt schon der nächste um die Ecke geflitzt.

Eher selten aber in letzter Zeit doch häufiger höre ich an diesen gewissen Tagen auch Stimmen.
Sie reden mit mir mal in dumpfer oder auch mal in fisselig hoher Falsett-Tonlage. Selbst weibliche Stimmen dringen ab und zu in mich ein. Stellenweise erheben ganze Chöre ihre Organe.
Teils sind diese rein männliche, teils rein weibliche und teils auch gemischte Chöre. Selbst ein Knabenchor hat mich in meinem Inneren schon mal aufgesucht.
Bei all diesen Auftritten in meinem Kopf bin ich der einzige Zuhörer. Beifall klatsche ich nie. Diese Stimmen sind nämlich die Stimmen meiner Sorgen, habe ich nach einer fordernden, strapazenreichen Selbstanalyse festgestellt.
Bei der anschließenden Revision zählte ich exakt 34 Sorgenstimmen, die nicht einfach nur vor sich hindösen, sondern teilweise sehr aktiv, manchmal fast überaktiv den Ton angeben wollen. Am stärksten erhebt meine Geldsorge die Stimme. Manchmal wird sie ekelhaft laut, schreit mich rücksichtslos an.

Aber warum läuft das so sonderlich absonderlich mit mir an diesen Blues-Tagen? Warum ist das so?
Lange Zeit fand ich keine Antwort. Endlich gelang mir aber doch die Aufdröselung dieser verwirrend wirren Verknotung: Anscheinend interessiere ich mich zu sehr für alles Schlechte in der Welt! Alles Marod-Dunkle scheint mir einfach hochinteressant, zieht mich geradezu magnetisch an.
Ständig höre ich auch Nachrichten – nur schlechte, noch schlechtere und auch sauschlechte. Das Schlechte zieht mich einfach magisch an, zieht mich dann aber auch herunter, herunter in den Blues.

Ich muss das endlich stoppen, irgendwie, unbedingt stoppen, sonst … nur wie?
Mittlerweile ist mir das Wie eigentlich fast schon schnurzegal, Hauptsache stoppen, wenn nötig mit Gewalt. Immer wieder hämmere ich mir das ein: stoppen, stoppen, stoppen!

Vor einigen Wochen habe ich mir eine siebenschwänzige Peitsche gekauft.
Meine miese Gedankenflut an diesen miesen Tagen – vielleicht bin ich imstande, ihr so das Wasser abzudrehen. Aber das wäre ja wohl zu schön, um wirklich wahr werden zu können. Doch ich muss diese unselige Flut endlich in den Griff kriegen, irgendwie, sonst werde ich zu guter Letzt unter Umständen vielleicht noch krank.

Ich hasse mein Gehirn und ich hasse diese ganz bestimmten Tage.
Da sitze ich dann tief, wirklich sehr, sehr tief in der Patsche, in meiner Pech-Patsche, in meiner Pech-und-Pannen-Patsche und gebe mir ab und zu die Peitsche.
Aber manchmal, manchmal suhle und aale ich mich auch in meinem Leid. Das ist dann jedes Mal, wirklich und wahr, ganz und gar eine Art Wonne-Wahn – schrecklich, schrecklich, schrecklich.

In jedem Leben, in jedem einzelnen Leben gibt es nur ganz wenig berechtigte Hoffnung. Man muss nur gute Augen oder zumindest eine Brille auf der Nase haben und ein klein wenig ehrlich zu sich selber sein, dann sieht man es klar und deutlich mit den eigenen zwei Linsen.
Aber die Alten sagten und sagen doch: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Das behaupteten sie, auch wenn sie im Dreck und Schlamm eines urinstinkigen Schützengrabens mitten in einem Senfgas-Angriff lagen. „Die Hoffnung – stirbt – zuletzt.“
Nee, nee, von wegen, nichts da, lächerlich, absolut lächerlich! Die Hoffnung stirbt zuerst, zuallererst – wenigstens bei mir war das so der Fall. Vermutlich geschah es schon im Mutterleib, wie bei einer sehr frühen Frühgeburt, einfach nicht lebensfähig, dieses kleine Etwas, der süße Embryo „Hoffnung“.

Wahrscheinlich ist es für mich doch besser, ich gehe irgendwann mal zu einem Psychologen, vielleicht sogar zu einem Therapeuten oder auch zu einem Analytiker – oder besser doch gleich zum Psychiater? Mal sehen. So was will gut überlegt sein.

Neulich, ja wirklich, neulich habe ich jemanden in der U-Bahn kennen gelernt: Ich sitze ganz ungezwungen da, und plötzlich, plötzlich spreche ich meinen Nachbarn an.
„Das Leben ist kurz,“ sagte ich zu dem Mitfahrer. „A geh weida, gib a Ruah“, knurrte mich der ungehobelte, ältliche Bursche aus der hiesigen ländlichen Bevölkerung an. Immerhin, er sprach mit mir.
Die Leute um uns herum senkten die Köpfe, versenkten sie zwischen den Schulterblättern und starrten wieder auf ihre Smartphones.
Ich atmete einmal heftig durch und wiederholte meine Worte, jetzt an alle gerichtet: „Das Leben ist k u r z – kurz, kurz, kurz“, blaffte ich die erstarrte Meute um mich herum an: „Es ist ja doch für euch schon bald alles vorbei, glaubt mir. Deshalb ist eigentlich alles egal, kapiert das doch endlich mal! Ihr habt doch überhaup keine Überlebenschance. Das Ende ist uns doch allen sicher! Mir wenigstens ist deshalb alles egal, scheißegal – und zwar total – total scheißegal – alles total scheißegal!!!“
Fast Totenstille, mindestens eine Minute lang, nur das monotone Rattern war noch zu hören,
„Ja, ja, das Leben i s t kurz, aber es darf einem trotzdem nicht scheißegal sein“, dröhnte plötzlich ein ärgerlicher Bass hinter mir durch den Waggon. Die lauten Laute rissen meinen Kopf herum. Mit seiner Power-Stimme schob der bauchige Riese heftig nach: „Deshalb ist noch längst nicht alles im Leben Scheiße oder scheißegal, du Depp, du, du Oberdepp, du!
Das war eine durchaus überlegenswerte Antwort, fand ich plötzlich und war mächtig beeindruckt, muss ich sagen.
Nachdem dieser röhrende Nachbar hinter mir und ich uns zur Überraschung der anderen Passagiere zunächst förmlich vorgestellt hatten, rutschten wir in einen immer vertraulicher werdenden Gedankenaustausch über einige drängende Seinsfragen hinein.

Im Laufe unseres zunehmend lebhafter werdenden Gesprächs kapierte ich Folgendes:
Die Pforte in ein helleres Leben hinein ist für mich Gott sei Dank doch noch nicht ganz geschlossen – doch noch offen – wenigstens eine Hand breit, nur darf einem in seinem Leben nicht alles scheißegal sein. Und das Leben selber sollte einem besser auch nicht scheißegal sein. Das leuchtete mir ein – wie ein Brandzeichen am U-Bahn-Himmel leuchtete mir das auf einmal ein.

Aber dann fand ich doch noch ein Haar in der Suppe:
Denn ganz langsam und schleichend schließt sie sich, unaufhaltbar, sogar eine hell leuchtende Lebenspforte schließt sich jeden Tag ein Stückchen mehr, Nanometer für Nanometer, Millimeter für Millimeter, klappt eines Tages ganz zu – Feierabend, Ende der Dienstreise. Dagegen kann man nun wirklich nichts machen, da mag einer sagen, was er will.

Doch ich stürze mich deshalb nicht gleich ins Schwert – nein, nein, von wegen. Danach steht mir nicht der Sinn, überhaupt nicht, ganz und gar nicht!
Mein mir stellenweise rätselhaftes Leben halte ich schon noch eine Zeit lang aus, oh ja, ganz bestimmt sogar! Sogar meine Albträume halte ja ich aus:

Ganz zu Beginn dieser nächtlichen „Präsente“, die wie aus der Vorhölle geklettert in mein Gehirn eindringen, träume ich nicht selten von einem grau-weißen Rundzelt mit einer Menge Sägespäne im Kreis.
Schwungvoll steige ich, vorzüglich in ein blassblau glitzerndes Kostüm gewandet, an einer Strickleiter gen Himmel. Junge wie erwachsene Zuschauer recken die Hälse.
Mit elastisch-sicherem Schritt tänzele ich hoch oben unter der Kuppel über das straff gespannte, stählerne Seil.
Doch beim siebten Schritt beginnt das Schwanken, immer wieder und genau beim siebenten Schritt. Zunächst ist es nur ein Millimeter-Schwanken, dann wird es schon stärker, wird zu einem Zentimeter-Schwanken, wird noch stärker, einen Fuß breit schwanke ich nun hin und her. Tief unter mir die Manege. Schließlich wirke ich oben unter der hell erleuchteten, weißgrauen Kuppel wie ein Trunkenbold – wie ein seiltanzender Trunkenbold – da stürze ich auch schon ab.
Zunächst falle ich ganz piano, fast so wie im schwerelosen Zustand.
Ich f a l l e, f a l l e und f a l l e, doch dann, immer schneller, falle, falle, falle ich und überschlage mich.
Fallendes Obst, Fallobst bin ich, matschiges Fallobst werde ich. Einen Fallschirm habe ich nicht. Doch da, eine irre Fallsucht überfällt mich, Fallada, fiderallala.
Unten falle ich in eine mit Sägespänen getarnte Falle, schlage hart auf – und wache durch meinen Schrei auf.

Am nächsten Morgen habe ich garantiert wieder den Blues – den ganzen Tag über diesen gottverdammten, harten Blues. Vielleicht habe ich ihn auch noch länger, drei oder vier Tage, mal sehen, wer weiß das schon vorher so ganz genau.


Vorgeschlagen und begründet von Franc Beno:

Diese Geschichte handelt vom Durchleben der Bluesphasen im Leben eines Ich-Erzählers, durchaus selbstironisch erzählt, aber ohne unpersönlich oder gar distanziert zu werden: Man glaubt ihm jedes Wort. Blues tritt sowohl personifiziert als auch im übertragenen Sinn auf, wird gar wörtlich als Musikrichtig verwendet. Und trotz aller Ironie und der vielen Metaphern und Abschweifungen wird das Eigentliche nicht aus den Augen verloren – der Text kehrt immer wieder darauf zurück.