Gelesen im MLb am 20.04.2018
Zwei Jahre war es her, dass sie erneut, diesmal in Salzburg, und wieder wie zufällig einander gegenübersaßen. Seitdem nicht mehr!
Von diesem letzten Wiedersehen an, auch wenn er es vor seinem Tagebuch noch immer nicht zugegeben hatte, spürte er dieser entrückten Frau einzelgängerisch nach. Wiederholt war er auf Reisen an verschiedenen Orten länger als vorgesehen geblieben. Bereits beim Frühstück, zumeist gegen Mittag, hatte er alle Kinoprogramme überflogen, ob die Dietrich irgendwo im Halbdunkel eines Lichtspieltheaters im Glanz der Leinwand zu erleben war.
Warum hatte er nie zu erkennen gegeben, dass er den Gruß in der Edenbar auch über die Jahre hin nicht hatte vergessen können? Weil er! – ja, er! – sich alles Bekennen vorbehalten haben wollte? Weil nicht er gegrüßt werden wollte? Weil er -, weil er was? Fühlte er sich erleichtert, dass sie ihn dann in Salzburg nicht erinnert hatte? An ihren unerwiderten Gruß? Mit einem quälend lange erhobenen Glas? Ihn nicht gemahnt, ihn nicht genötigt hatte? Mit einer für ein Leben wachgehaltenen Stimme, »hörst du denn nicht: du sollst!« – eigenmächtig und schonend abgeschwächt zu einem »hörst du! – solltest du nicht?« Er hätte ein Zeichen geben, er hätte sein Glas heben können, unverfänglich, allein schon ihres flirrenden Ruhmes wegen. Im Halbschatten der Markisen. Hoch über der Salzach. In einer zehrenden sommerlichen Wärme, in der er die Frau dort drüben, über Tische hinweg, kaum aus den Augen ließ. Wenn sie sich ordnend in die Locken griff, sich räkelte. Wenn sie den Arm hob und hinter dem Hals an ihren über den Nacken schaukelnden Haaren sichernd herumnestelte. Wenn sie den kurzen Ärmel ihres Kleides mit in die Höhe zog, – dass man ihr unter die Achsel hätte blicken können, – wie dieser Mensch dort, der ungeniert mit ihr tafelte, fast drei Jahrzehnte älter als sie, mit unrasierter Lippe, läppischem Lippenbärtchen, während er, Remarque, Zeit seines Lebens sich dort und sonstwo entmilitarisieren sollte, – und doch, das hatte dieser Fremdling voraus, dass er längst wusste, ob sich die Frau, die er sich anmaßte, der hier die brütende Hitze feucht unter die Achseln kroch, wenigstens unter den Armen schor, dort, fast schon auf halbem Weg aller Liebhaber. Alfred POLGAR, wie er sich nannte, – Remarque, er hätte ihn schütteln können, wie er sich hatte schütteln lassen müssen, um sich KRAMER schimpfen zu lassen, – freundlich schütteln! – bis schlicht so etwas wie POLACKE herauskommen musste! Wenn man es zeitgemäß, wenn man es tragisch nahm.
Remarque, wäre er selbst nicht in Begleitung gewesen, er hätte sie angesprochen. Hätte sich einen der unbequemen Stühle genommen. Hätte sich zwischen sie gesetzt. Bis er dem Voyeur, diesem Achselgaffer da, lästig geworden wäre.
Sie waren später gekommen als er mit der Schwarzenbach. Waren auch früher gegangen. Er hatte den Kellner gefragt. Er hatte sich vergewissert:
»Kannten Sie den Herrn, dort, drei Tische weiter?«
»Ja. Herrn Polgar?«
»Alfred Polgar?«
»Ja. Frau Dietrich und der Herr Polgar waren gestern schon hier. Sie kannten ihn nicht? Und Frau Dietrich?«
»Nein, – nur aus der Presse. Alfred, gut! Aber war der Herr nicht Alfred Polak?«
»Nein!« Der Kellner bewahrte Fassung. »Entschuldigen Sie mich bitte!« Er hatte es plötzlich eilig.
Aber der andere, dieser sperrige Mensch da, mit den allein schon für den Austausch von Visitenkarten viel zu groß geratenen Händen, er hatte vermutet, er hatte gewusst, auf wen er hier stieß. Vielleicht wäre Polgar bei der Wahl eines Tisches, der ihm oder der Dietrich zusagte, an ihnen vorbei bis an das Ende, die Stirn der Terrasse gegangen. Hätte er nicht Remarque oder die Schwarzenbach erkannt. Die Bucheinbände mit seinem Konterfei waren selbst hier nicht zu übersehen. Er hatte Remarque nur kurz mustern müssen. War stehen geblieben. Hatte der Dietrich mit entschiedenen Gesten dann einen Tisch vorgeschlagen, an denen sie bereits vorüber gekommen waren. Drei Tische weiter. Drei Tische zurück. Zufall war es vielleicht, dass die Dietrich dann dort den Stuhl gewählt hatte, auf dem sie Remarque nicht die Schulter, gar den Rücken zeigte, vielmehr geriet er unmittelbar in ihr Blickfeld, über die Schulter ihres Begleiters hinweg. Doch die Distanz über die beiden trennenden Tische war zu groß, um sich gewiss zu sein, selbst wenn sie sich sahen, selbst wenn auch sie ihn wahrgenommen, ihn erkannt haben sollte, dass sie Blicke tauschten, zu denen sie sich bekannten. Lächelte sie? Falls sie überhaupt lächelte! Ja, jetzt wieder, wenn sie irgendetwas bestellte oder sich vorschlagen ließ. Weniger im Gespräch mit diesem Menschen, dem er nur in den kahlen Nacken, über die Schulter sehen konnte, auf die vergilbten Hände, die dieser verwitternde Mensch erstaunt, schwärmerisch heuchelnd, dann wieder beteuernd, abwehrend hochreißen konnte, wenn die Dietrich die Schultern hob, zu zweifeln oder zu widersprechen schien, wenn sie herzlich lachte, – ja, lachte, wenn dieser Polgar da ihr mit den ungeschlachten Gesten seiner Hände irgendwelche süffisanten Komplimente machte. Allein, wenn man meinte, dass sie herübersah, nein, wenn sie aufschaute, über die Schulter ihres Begleiters, über die beiden trennenden Tische, dass man denken, dass man sich fühlen machen wollte, man habe sich wiedergefunden: sie blickte wie selbstverloren. Wie verloschen. Wenn er dann wich, zur Seite ausbrach, den Kopf flüchtig wandte, die Schwarzenbach ansprach, um dieser knabenhaften Frau nicht auffällig zu werden, wenn er wie beiläufig dann über die Tische gegen das ferne Augenpaar zurückfand, schien ihm der Blick der Frau, die ihm einmal beim Namen gerufen hatte, unverwandt in eine Ferne gerichtet, in der sie auf seine Rückkehr gewartet zu haben schien. Unübersehbar: diese leichte, wegweichende Bewegung ihres Kopfes, dieses späte, verfliegende Lächeln ins Leere. Um unvermittelt mit einem Augenaufschlag zu ihrem Begleiter zurückzufinden, um sich nochmals wiederholen zu lassen, um sich versichern zu lassen, was er ihr aufdringlich zu versichern müssen meinte.
Sie war verdeckt durch die Speisenkarte aufgestanden, die Polgar aufgefaltet in Händen hielt. Dieser erhitzte Mensch dort hatte sich bis zuletzt noch Luft zugefächelt. Sie war gegangen, ohne, vielleicht wie ein Versprechen, nochmals den Blick in eine Ferne zu werfen, aus der er immer entschiedener auf ihr Lächeln zugekommen war.
Sooft er sich später auch fragte, er konnte sich an niemand erinnern, der an den beiden Tischen zwischen ihnen gesessen hatte. Er hätte niemand beschreiben können. Es fiel ihm leichter, sich an zwei leere, abgeräumte Tische zu erinnern.
Mit Genehmigung von Benevento Publishing: https://www.beneventobooks.com/produkt/krieg-und-liebe/
Vorgeschlagen und begründet von Wolfram Hirche
Das kurze Kapitel aus dem Roman „Krieg und Liebe“, das uns der Autor Hans Boeters hier vorgelegt hat, zeigt in Stil und Inhalt exemplarisch Verzweiflung, Leidenschaft und Zeitbezug. Es wurde im Sommer 2019 im MLb vorgelesen. Der Schriftsteller Erich Maria Remarque begegnet „wie zufällig“ und zum zweiten Mal einer Berühmtheit, die ihm die Sprache verschlägt: Marlene Dietrich! Er, der längst in die Schweiz emigriert ist und ständig von Frauen umgeben, hat versucht, Begegnungen herbeizuführen, hat ihr entgegengefiebert, alles vergeblich, sie bleibt kühl bis unter die Achseln, sie wirkt „wie verloschen“. Es scheint dem Autor des meistverkauften Romans seiner Zeit, „Im Westen nichts Neues“ überhaupt nichts zu nützen, dass er in literarischem Ruhm badet – die neue Technik des Tonfilms hat ganz andere Stars geboren :Filmschauspieler! Das Kapitel bereitet den Höhepunkt des biografischen Romans vor, in dem es schließlich doch noch zum Treffen kommen wird – dem Beginn eines jahrelangen, turbulenten amour four. Der expressive Stil, der sich nicht scheut, in eher altmodischen Wendungen und Wiederholungen sich immer tiefer in die Charaktere hineinzubohren, hat seine Vorbilder in Döblin und Grass, pendelt zwischen expressionistischer Verve und geradezu ausschweifender Detailierung – keine Faser der beiden Protagonisten bleibt verborgen. Die Andeutungen dieses Kapitels versprechen alles und lassen alles offen.