Haidhauser Werkstattpreis 2016/2017

Am Samstag, dem 29. April 2017, kam es wieder einmal zu einem der Höhepunkte im Veranstaltungskalender des Münchner Literaturbüros – Finale und Schlusslesung des 24. Haidhauser Werkstattpreises.

Im gut gefüllten Saal der Münchner Stadtbibliothek im Gasteig stellten sich zehn AutorInnen dem Urteil des Publikums. Alle zehn hatten sich zuvor und im Verlauf eines Jahres mit einem Sieg beim Offenen Abend im Münchner Literaturbüro für ihre Teilnahme qualifiziert.

Dieses Jahr und im Gegensatz zu manch einem zuvor betrug der Anteil weiblicher Teilnehmer leider nur 30 Prozent, was zwar immerhin der mickrigen und eh nie erreichten mehr-oder-minder-Selbstverpflichtung deutscher Dax-Konzerne entspricht, aber noch Luft nach oben lässt.

Den Anfang machte Angela Gutschmidt mit „Bücher statt Menschen“ einem Text aus ihrem schon im Münchner Literaturbüro vorgestellten Projekt an Erzählungen, die sich aus zufällig in Kontaktanzeigen gefundenen Zitaten heraus entwickeln. In dieser Geschichte traf man eine passionierte Leserin, die sich von ihrer frisch geschiedenen Schwester angestachelt mit einem Herrn trifft, der sich Friedrich Nibelungen nennt und sich als böse Überraschung entpuppt – nicht nur seiner plumpen Anmache wegen, sondern auch weil er eh nur Schrott liest. Flott und amüsant erzählt, definitiv kein Schrott und ganz bestimmt kein solcher Reinfall wie dieser Typ – Nibelungen, schon der Name – da schwante einem Böses (ach nein, das ist ja Lohengrin … mein Irrtum!)

Wie die nächste Autorin Ursula Dimper erklärte, hatte sie sich nach all den Vorwürfen, dass sie immer so düstere Sachen schreibe, mit ihrer Erzählung „Neulich im Zoo“ mal etwas Amüsantes vorgenommen: Ein Mann erwacht, ohne zu wissen, wieso und warum im Affengehege: Der Wärter behandelt ihn wie alle anderen Affen, das Zoopublikum ist amüsiert und zückt bloß seine Smartphones, Rettung ist erst einmal keine in Sicht. Nur eine Äffin scheint sich mit ihm befreunden zu wollen. Was zuerst kafkaesk anmutet, erweist sich letztlich als Racheplan eines betrogenen, verlassenen, aber trotzdem wohl fast allmächtigen Ehemannes, dem das aber auch nichts mehr hilft, denn seine dann-wohl-endgültige Ex schließt den von ihr glücklich aus dem Affengehege Befreiten endlich in ihre Arme und verreist mit ihm in den wohlverdienten gemeinsamen Urlaub.

Der Witz war zu gesucht, der Einfall wurde überstrapaziert, und überhaupt strotzte das alles vor psychologischen und lebensweltlichen Unwahrscheinlichkeiten. Das Publikum blieb so ratlos zurück wie die verlassene Äffin, die Ärmste. Dass sich die Autorin bei der Beschreibung der Affen nicht zwischen Gorilla, Orang Utan und Pavian entscheiden konnte, war da noch das kleinste taxonomische Problem. (Linné wird éh überschätzt.)

Dann aber zu etwas ganz Anderem, zu Christoph Michels‘ „im gelb & weiter“: in einem stakkatohaften, atemlosen inneren Monolog überschlugen sich Wahrnehmungs-, Gesprächs-, Satz- und Denkfetzen, die zusammen einen ziel- und planlosen Streifzug durch das sommerheiße Paris ergaben, Zufallsbegegnungen und das Warten auf eine Nachricht von „ihr“. Ein durch was auch immer getriebener Text getrieben vorgetragen. Wenn man auch die Vorbilder für solch eine Art des Schreibens wiedererkannte, wagte der Autor doch etwas auch sprachlich ganz Eigenes. Wie schreibt Christoph Michels in seiner Vita zu seinem Tagessieg: ‚There’s more to come.‘ Let’s hope so.

Eine ganz andere Art von Getriebenheit bestimmte die Erzählung „15 Minuten“ von Marion Zechner. Wie der Titel und die akribisch im Text herunter gezählten Minuten ahnen lassen, geht es um etwas Wichtiges und geht das nicht gut: Eine junge Frau auf dem Weg zu ihrem (für sie und ihren für sie sich aufopfernden Vater) bisher wichtigsten Termin – einem Stipendiumsgespräch – und alles geht schief, was schief gehen kann: Auto springt nicht an, Anlasserkabel des Wohnungsnachbarn, Stau, Baustelle, rote Ampeln … und die Zeit läuft gnadenlos ab. Das Ziel der Fahrt und sogar noch rechtzeitig vor Augen verursacht sie einen Unfall und den Tod eines Radfahrers. Plötzlich steht die Zeit still, und was war noch einmal ach so wichtig? Auch wenn man es so oder ähnlich kommen sah, berührte das Ende doch die Zuhörer.

Hartwig Nissen präsentierte mit „Klare Konturen“ eine Erzählung in alter Manier, (um bei Ingo Schulze zu schnorren.) Ein schon betagter Graphiker wird von einer jungen Frau verführt, die er danach nur einmal noch wiedersieht, nämlich ein gutes Jahr später und dann mit Kinderwagen und Neugeborenem. Und da dämmert ihm etwas bzw. alles, und er fühlt sich auf gleich mehrfache Weise beraubt. Solide erzählt und mit überraschendem Schluss.

Nach der Pause setzte Helmut Friedrich mit „Die Wäschereimeisterin“ den Lesereigen fort: Niederbayrische Provinz, ein Außenseiter im Dorf, dem einer unbedachten Äußerung zum Pfarrer wegen die Firmung verweigert wurde, was anscheinend sein Leben verpfuschte und den sozialen Tod bedeutete in der niederbayrischen Provinz. Die Wäschereimeisterin aus dem Titel, die seltsamerweise eigentlich als Buchhalterin beim Bistum Passau arbeitet, setzt sich eines Tages, warum auch immer, zum einsamen Außenseiter an den Tisch und auf ein Bier bzw. Weißbier. Die anderen trauen ihren Augen nicht, aber die Wäschereimeisterin erkennt da und dort, dass der Außenseiter und seine ganze Geschichte nur ein Konstrukt des Dorfes sind. Ein erst einmal nicht unbedingt naheliegender Gedankengang und Erkenntnisschluss in der niederbayrischen Provinz, der sich aber erklärt aus der Wäschereimeisterin Besuchen verschiedener philosophisch-theologischer Vorträge beim Bistum Passau, bei denen es offenbar um ontologischen Status und Materialismus gegen Idealismus ging. (Dass der Nominalismus-Realismus-Streit in der niederbayrischen Provinz noch immer tobt, wer hätte das gedacht?)

Dem ersten Stück mit der Wäschereimeisterin folgte ein zweites, in dem die Wäschereimeisterin täglich die Daily Soap um einen Mann aus der mecklenburg-vorpommerschen Provinz verfolgt, der sich seine tägliche Daily Soap um eine Wäschereimeisterin aus der niederbayrischen Provinz auf keinen Fall entgehen lässt. Es kommt, wie es kommen muss, irgendwann schauen sich die beiden wie der Spiegel im Spiegel im Fernsehen gegenseitig beim sich gegenseitigen Zuschauen zu, bis einer von beiden den Fernseher und damit den anderen ausschaltet – eine philosophisch pfiffig-überraschende Lösung für einen regressus ad infinitum, und ein auch sonst recht unterhaltsamer Komödienstadel für die Postmoderne.

Dass Markus Hallinger mit „Zwei Erinnerungsstücke“ ähnlich bayrisch provinzielles Gelände betrat, hat dem Text und vor allem der Aufmerksamkeit des Berichterstatters arg geschadet, der angesichts solch Rücken an Rücken geballter Bavarica seine Seele baumeln und seine Konzentration schleifen ließ, Was ihm noch erinnerlich: Zwei sehr gut geschriebene Erinnerungsversuche, die letztendlich leider unter Wert verkauft wurden.

Dann aber Franz Oberhofers „Arktische Notate“ bzw. deren erster Teil. Diesem Text hier auch nur im Ansatz gerecht zu werden, wäre höchst vermessen. Eine solche Aufeinanderfolge an Bildern, Fügungen, Metaphern, Themen und Sprechweisen trug den Zuhörer innerhalb kürzester Zeit aus der Kurve und ließ ihm nur noch, mehr oder weniger ratlos/überwältigt/baff/hingegeben dem Anschwall zu lauschen. Widerstand war zwecklos, jedwedes Verstehen überfordert. Trotzdem klang das alles noch lange nach, ja führte im Nachklang zu eigenen Sprachspielen und -versuchen, weiß der Berichterstatter doch um keinen Preis mehr zu sagen, ob die Zeile ‚Streunende Seehunde enden in Sepsis‘ nun von ihm selbst oder vom Autor stammt. (Vielleicht handelt es sich aber auch nur um die vernuschelte Text-Zeile aus einem Grönemeyer-Song: ‚Ich hab‘ die sepierenden Seehunde streunen geseh’n!‘)

Wer den Text nachlesen will und dadurch zu einem nachträglich anderen Urteil und vielleicht besseren Verständnis kommen will, sei hierauf verwiesen: signaturen-magazin.de

Nach den Schrecken des Eises und der Finsternis kamen die Zuhörer bei Wolfram Hirches „Gedichten“ wieder in ruhigeres Fahr- und Lesewasser: Mal augenzwinkernde spät-spät-romantische Naturlyrik zu Mond und Wintertag, mal lakonisches Spätwerk-Parlando. Und dann auch noch ein DIY-Porn* vom Feinsten. Der Altmeister wusste wieder einmal zu überzeugen. *Baumarkt-Porno

Den Abschluss bildeten die „Gedichte“ von Gerhard Häusler; oder besser, und wie er selbst sagte, erst Gedichte und dann immer mehr Kabarett (Anm. d. Red.: nicht das nackerte, sondern das politische) und, wie es sich gehört, auswendig vorgetragen. Dass mit der politischen Botschaft gegen Ende hin auch die Nachdrücklichkeit (manch einer würde sagen die Lautstärke) zunahm, sollte da nicht zu sehr stören. Bayrischer Filz, Flüchtlinge, Unmenschlichkeit, das musste einfach mal gesagt werden, und wurde es dann auch.

Nach einer spannenden Auszählung des Publikums-Votums ergaben sich folgende Platzierungen:

  1. Sieger: Christoph Michels „im gelb & weiter“. Nachzulesen übrigens hier: signaturen-magazin.de
  2. Helmut Friedrich: „Die Wäschereimeisterin“
  3. Wolfram Hirche: „Gedichte“
  4. Hartwig Nissen: „Klare Konturen“
  5. Angela Gutschmidt: „Bücher statt Menschen“
  6. Ursula Dimper: „Neulich im Zoo“
  7. Marion Zechner: „15 Minuten“
  8. Gerhard Häusler: „Gedichte“
  9. Franz Oberhofer: „Arktische Notate: In See stechen, mein Wort Fliehkraft“
  10. Markus Hallinger: „Zwei Erinnerungsstücke“

Bericht: Dieter Fuchs
Foto: Benjamin Oberhofer