Hans-Karl Fischers fantastischer Surrealismus – Abendbericht vom 27. Januar 2023

Hans-Karl liest vier fantastische Kurzgeschichten, die an Märchen erinnern, aber auch mittelalterliche und surreale Bezüge enthalten.

Dir erste Geschichte mit dem Titel “Die Kiriche von Marandi” handelt von der Auseinandersetzung zwischen geistlicher und weltlicher Macht. Der Kirich Som, geistlicher Führer von Marandi, wirft dem weltlichen Verwalter, dem Tanun, trotz gerichtlicher Widerlegung Ehebruch vor. Wegen dieser Verleumdung muss der Oberpriester zurücktreten, wird jedoch wider Erwartung vom designierten Nachfolger Dram unterstützt, der ihm sogar sein Haus überschreibt, damit Som wieder in die Gemeinschaft der gehobenen Bürger aufgenommen werden kann. Auch der vorgesehene Nachfolger des Nachfolgers Fanlu überträgt dem Som einen Großteil seines Vermögens. Es bildet sich eine Kaste von Oberpriestern, die sich von den anderen Priestern absondern, Feste und erotische Exzesse feiern.

Für bürgerliche Bewerber, die in die Priesterkaste eintreten wollen, werden antike und frühgermanische Aufnahmerituale veranstaltet mit Gebeten und Eingeweideschau an einem geschlachteten Haselhuhn und Beobachtung der Flugrichtung des Hühnerhabichts. Diese Rituale beeinflussen den Urteilsspruch.

Wegen Völlerei und Ausschweifungen im Kloster auf dem Stadtberg verspielt die Priestertkaste bei den Bürgern ihren Ruf und beschwört ihren eigenen Untergang herauf. Der gealterte Kirich Som verliebt sich in die Hetäre Burunt und treibt es mit ihr in aller Öffentlichkeit. Der Tanun, weltlicher Herrscher von Murandi, schließt alsbald die Tore des Klosters, was schließlich zum Untergang der geistlichen Macht führt.

In der Diskussion wurde auf Parallelen zum Niedergang der katholischen Kirche hingewiesen. Im Gegenwartsbezug liegt der Symbolwert der Geschichte. Die widersprüchliche Schilderung der angeblich so schönen und Männer betörenden Hetäre Burunt führte allerdings zu gegensätzlichen Reaktionen des Publikums. Man fragte sich, worin die Schönheit einer Frau besteht, die schwarze Haarsträhnen hat, auf deren Wimpern Tausendfüßler krabbeln und die ihre Knie mit zwei Schildkrötenpanzern bedeckt, um deren Missbildung zu verdecken. Diese Surrealität erzeugte Verwirrung und wurde nicht verstanden. Man könnte dieser Schilderung einen positiven Aspekt abgewinnen, da sie Züge eines magischen Realismus im Sinne von Garcia Marquez aufweist.

Die zweite Geschichte Der große Savik beschreibt überzeugend eine psychologische Erkenntnis: Sarik, königlicher Herrscher über das Reich der Askeniden erniedrigt und demütigt seinen Außenminister, da er ihn um dessen militärische Erfolge und Eroberungen beneidet und sich vor dessen eventuellen Machtansprüchen ängstigt. Um den Herrscher zu versöhnen, fällt der Außenminister vor dem König auf die Knie und unterwirft sich.  Trotzdem wirft ihn der König ins Gefängnis, um vor ihm sicher zu sein und lässt ihn von einem Spitzel aushorchen. Dass der Gefangene sich allerdings selbst befreien konnte, indem er dem schlafenden Spitzel den Zellenschlüssel aus der Tasche nahm, wurde vom Publikum als unglaubwürdig und nicht nachvollziehbar kritisiert. Auch wurden Erzählabsicht und Symbolwert der Geschichte als unklar  eingeschätzt.

Die dritte Geschichte Die Grunwinkos handelt vom Leben eines Müllerehepaars und der Verehelichung ihrer Tochter mit dem Apothekersohn des Ortes und dessen Trennung von der Familie. In Wahrheit geht es dem Autor um die Darstellung der Scheinheiligkeit, die er den handelnden Personen mehrmals unterstellt und kommentiert, nach der Meinung des Publikums jedoch nicht am Verhalten und der Handlungsweise der Personen zeigt. Dialoge hätten die Geschichte lebendiger gemacht. Auch dass ein Kind die Scheinheiligkeit von Erwachsenen durchschaut und begreift wurde als unglaubwürdig kritisiert.

Die letzte Geschichte handelt von Gruwidanka, der im Wald Tranika eine Heldenschule leitet. Gruwidenka entwirft ein positives Heldenbild, das den Streit zweier Einsiedler schlichtet. Gleichzeitig bezeichnet er „sich wegen der Sinnlosigkeit des Lebens und bei drohender Gefangenschaft  mit der eigenen Waffe selbst zu töten“ als die „höchste aller erreichbaren Seinszustände“. Als er alt wurde stellte er seine früheren Ansichten spöttisch in Frage und nannte sein Pantherfell ein Faschingskleid. Dieser Sinneswandel fand beim Publikum wenig Zustimmung und ließ die Erzählabsicht im Dunkeln.

Die Klammer, die die Geschichten miteinander verbindet sind die exotischen Eigen- und Ortsnamen. Sie können als eine Distanzhaltung des Autors von den Geschehnissen gedeutet werden.

Bericht von Horst Oberbeil