Villanellen und andere Entdeckungen – Abendbericht vom 17. November 2023

Eine Villanelle ist kein Insekt. Sondern eine besondere Gedichtform, die sich im 16. Jahrhundert in Frankreich herausbildete; näheres darüber kann man bei Wikipedia nachlesen. Dieser seltenen und strengen Form geschuldet war das Gedicht „Die Spinne“, welches Kathrin Widmann neben dem Gedicht „Rattenkönig“ unmittelbar vor der Pause vortrug. Da Spinnen wie die Insekten zu der Klasse der Gliederfüßler gehören und auf den Ratten Flöhe sprangen, waren diese beiden eindrucksvollen Gedichte beim Thema „Insekten“ genau richtig und ernteten wegen ihrer ausgeklügelt-klassischen Formen und konsequent durchgehaltenen Rhythmen zurecht viel Beifall.

Begonnen hatte der Abend mit zwei kurzen Erzählungen von Günter Mitschke: „Chefsache“ und „Der Mann, der kein Glück hatte.“ In Ihnen ging es um allgemeine Insektenangst bzw. konkrete Angst vor einer gelbschwarzen Wespe, jeweils eingerahmt in eine Rahmenhandlung. Die Insekten spielten darin Störenfriede. Die beiden Geschichten standen für das negative Verhältnis Mensch-Insekt.

In den von Christine Hensel danach vorgetragenen Gedichten, war dieses Verhältnis schon ambivalenter: Die Glühwürmchen waren als „Zauberwesen“, deren „Magie des Anblicks“ die Dichterin erlag, positiv konnotiert, während sie in einem weiteren Gedicht der Küchenschabe gegenüber eher neutral blieb. Die von der Autorin so genannte, dem zahlreich erschienen Publikum ansonsten unbekannte „Argosfliege“ schließlich schwankte zwischen göttlicher Verehrung und Vertreterin von Fliegenplagen biblischen Ausmaßes. Gegenüber diesen Prosastücken und Gedichten blieb das Publikum überwiegend kritisch. Moniert wurde fehlende „Tiefe“ und fehlende „Perspektive“.

Eine bis ganz zuletzt gar nicht erscheinende Küchenschabe war auch Protagonistin der von Petra Lang vorgetragenen Geschichte „Die Küchenschabe.“ Geschildert wurde darin das sich langsam, bis zur Lächerlichkeit hin verändernde Kommunikations- und Essverhalten einer ganzen Familie, weil die sich ständig Gedanken darüber macht, was passiert, wenn sie die von ihnen erwartete Küchenschabe entdecken. Als die dann ganz am Ende erscheint, passiert: nichts.

Nach der Pause trugen Christine Hensel und Ute Raab zusammen eine Art Performance aus Lautgedicht und dem Summen von Bienen und Hummeln vor, Ute Raab danach ein Rezept aus einem ‚Insektenmenü‘. Beifall gabs vor allem für die lustige Performance.

Hochinteressant war die Wirkung der von Viktoria Bauza in lockerem Jugendjargon vorgetragenen Geschichte von Rudi Völler und Mrs. Marpel. Ersterer war der Psychiater der Ich-Erzählerin eben mit jenem verwechslungsfähigen Namen, letztere eine Wanze, die sie auf einem vermeintlichen Achtsamkeitsseminar zuerst auf ihrer Liegematte, dann auf ihrem Arm laufen sah und zunehmend interessiert und intensiv-konzentriert beobachtete und auf der Haut wohlig fühlte. Bis plötzlich eine Frau soundso die Szene aufbrach und sich als Lehrerin entpuppte, die nach der Lösung der gestellten Aufgabe fragte. Die Ich-Erzählerin befand sich nämlich in Wirklichkeit in der Schule, im Unterricht, war dort aber einem tiefen Tagtraum erlegen. So wie die Zuhörer*innen, die dem Fluss der Geschichte und der Sprache folgend, genauso nicht bemerkten, wo sie waren und deren Überraschung darob jener der Ich-Erzählerin glich.

Zuletzt trug Carina de Jonge eine mit „In – Sekt“ betitelte Geschichte aus dem psychiatrischen Milieu vor. Der Psychiatrie-Patient Lahmann fühlt sich stetig von einem Insekt verfolgt. Kein anderer aber hatte das Insekt je gesehen. Erzählt wurden die vielfältigen Formen und Folgen dieser Obsession, die bis dahin gingen, dass der Protagonist im Alltag einen weißen Ganzkörperschutzanzug trug, auch wenn er sich mit seinem noch verbliebenen Freund abends in der Bar traf. Diesem gelang es dann aber mit Hilfe einer Barbesucherin, die später die Freundin des Protagonisten wurde, diese Zwangsvorstellung der Insektenverfolgung abzubauen und aufzulösen. Im darauffolgenden Sommer aber wurde der vormalige Patient Lahmann von einer Tigermücke gestochen und erkrankte lebensgefährlich am Dengue-Fieber. Die Moral von der Geschichte sollte sein: Die Wahnvorstellung, von einem Insekt verfolgt zu werden, garantiert nicht, dass man nicht von einem Insekt verfolgt wird.

Am Ende gab es viel Beifall für die Autorinnen und Autoren für ihre vielfältig-kurzweiligen Texte zum Thema „Insekten“ – ein voller Erfolg!

Abendbericht: Ulrich Schäfer-Newiger
Fotos: Susanne Görtz