Zwei Füße, ein Schuh – Abendbericht vom 24. November 2023

Der Autor Philipp Stoll, der im Mlb auch als Moderator und Barmann bekannt ist, hat bereits zwei Romane veröffentlicht: „Blutsbrüder und Passanten“ (2016) und „Mischungsverhältnisse“ (Dittrich Verlag 2023). Derzeit arbeitet der Autor an einem neuen Projekt, einem autofiktionalen Episodenroman unter dem eingängigen Titel „Zwei Füße, ein Schuh“.

Im MLb las der Autor nun Auszüge aus diesem fast schon 200 Seiten umfassenden Manuskript vor. Das eisige Wetter inklusive erstem Schnee hatte leider manche MLb-Freunde davon abgehalten, sich auf den Weg zu machen, so war es ein eher kleines, aber konzentriertes Auditorium, das den teils real erlebten, teils fiktiven Erzählungen aus dem Leben des Richters Stoll lauschte:

Am Mittwoch, an dem die Geschichte beginnt, ist der Richter spät dran und schlecht drauf. Seine Tochter hatte ihm, als altem weißen Mann, am Vorabend praktisch die Berechtigung aller seiner Gedanken und Äußerungen abgesprochen. Insbesondere solle er sein verstaubtes Zeug nicht auch noch aufschreiben, das interessiere keinen mehr. Davon noch mitgenommen sitzt Stoll als beisitzender Richter in der Verhandlung. Es geht um einen Fall von Love Scamming, einer besonders fiesen Art des Betrugs, bei der den Opfern nicht nur ihr Geld, sondern auch ihr Herz und ihre Liebe geklaut wird.

Die lebendige Schilderung vermochte es, das Publikum des MLb in den Gerichtssaal zu versetzen, wo man nun den Duft der Currywurst aus der Kantine riecht und sich bemüht, das anstrengend laute Reden der Simultandolmetscher zu überhören, die den Angeklagten jedes gesprochene Wort in die jeweilige Muttersprache übersetzen. Und man leidet mit der geschädigten Zeugin, die fassungslos über ihre eigene Verblendung um den Rest ihrer Würde kämpft. Auch der zweite Zeuge, Manfred, wurde von den Betrügern um sein Vermögen gebracht, indem er seiner Online-Liebe „Cathy“, einer angeblich in Nairobi stationierten US-Soldatin, mit hohen Geldbeträgen aushalf. Dass Cathy in Wirklichkeit nur ein teils von KI simuliertes Phantasiewesen der Betrügerbande ist, weigert er sich selbst dann noch einzusehen, als sogar einer der Angeklagten ihm zuruft, er solle doch verstehen, dass es die Dame gar nicht gibt. „Der Vorsitzende schaute ratlos vom Zeugen zur Staatsanwältin, dann zum Verteidiger, schließlich zu den Angeklagten. Die verbargen ihre Gesichter, indem sie auf die Tischfläche vor sich oder auf ihre Schuhe starrten, alle drei trugen makellose Sneaker mit weißen Sohlen.“ Der Szene im Gericht folgen Betrachtungen des Protagonisten über Wahn und Vernunft und die fließende Grenze zwischen dem ein und dem anderen.

Nach der Pause nahm das Publikum Anteil daran, wie der Protagonist Richter Stoll selbst den Boden unter den Füßen zu verlieren droht, als er völlig orientierungslos in den Stockwerken des Amtsgerichts herumirrt und sein eigenes Büro nicht mehr findet. Das Vorstadium einer Psychose? Unfähigkeit, das Offensichtliche wahrzunehmen? – „Tatsächlich erlebt!“, bekannte der Autor.

Das nächste Kapitel handelt von einer Rucksackreise mit Freund Stefan durch Kappadokien, wo dem Jugendlichen Stoll auf rätselhafte Weise einer seiner Bergschuhe abhanden kommt.  Ob der „unglaublich sympathische“ Schafhirte dahintersteckte, der die beiden Backpacker am nächtlichen Lagerfeuer mit feinem Schafskäse verköstigt hat, fragte eine Zuhörerin. Der Autor, der diese Lösung bisher nicht in Betracht gezogen hatte, freute sich an der Neuinterpretation und erwog, sie eventuell einzubauen. Sicher liegt genau hier ein Reiz der Gattung Autofiktion, nämlich das eigene Leben als Narrativ zu behandeln, die Vergangenheit als „work in progress“.

Freund Stefan hänge nun seit einiger Zeit nicht nur einer christlichen Sekte, sondern auch einer Verschwörungstheorie an, von der er sich durch keine logischen Argumente abbringen lasse. Die jahrzehntelange Männerfreundschaft sei deshalb auf eine schwere Probe gestellt, fasste der Autor ein nicht vorgetragenes Kapitel zusammen, womit wieder deutlich wurde, was die Episoden dieses Romans zusammenhält: Was ist richtig, was ist falsch? Wo ist die Grenze zwischen Wahn und Vernunft?

Das Publikum lobte die sehr kurzweilige, anschauliche und humorvolle Erzählweise des Autors, riet allerdings, nicht zu tief in die philosophisch-theoretischen Reflexionen und psychologischen Abhandlungen einzusteigen. Letzterem würde vermutlich auch die Tochter des Richter-Autors zustimmen.

Abendbericht: Simone Kayser
Foto: Beppo Rohrhofer