Das Literaturbüro war bis zum letzten Platz besetzt – vornehmlich mit Haidhausenbewohner, die gespannt waren auf die Haidhausengeschichten der Autorin Sabine Jörg. Und sie wurden nicht enttäuscht. Die Autorin bot kurze, in Präsenz verfasste Geschichtchen, Beschreibungen, Darstellungen des Münchner Viertels aus den 70iger Jahren.
Frisöre, Drogistinnen, Obstverkäuferinnen, Reisbüro-, Elektro- und Kräuterladenbesitzer usw. bevölkerten die Szenerie. Ganze Straßenzüge wurden abgegangen und hier und dort an berühmte Bewohner (Joachim Fernau oder Brigitte Monhaupt) erinnert. Kleine, z.T. humorvolle, sehr kurze Dialoge bereicherten die Darstellung, die dann abrupt endeten und dadurch den sympathischen Charakter des Lakonischen entfalteten. Die Zuschauer gaben in den Diskussionspausen zunächst begeistert ihre eigenen Erinnerungsstücke wortreich dazu; es entwickelte sich eine Art dialogisch-kollektiv-fröhliche Erinnerungsarbeit. Verstärkt und befördert wurde diese Arbeit durch von der Autorin, die auch Fotografin ist, mitgebrachte, alte Schwarz-Weiß-Fotos des Viertels aus dieser Zeit, die z.T. direkt mit den im Text erschienenen Örtlichkeiten korrespondierten. Sie wurden per Beamer hinter sie an die Wand geworfen und waren somit gleichzeitig während des Hörens des Textes für die Zuhörer sichtbar. Die Diskussion befasste sich dann auch gezielt mit dem Verhältnis des in Präsenz gehaltenen Textes zu den Fotos: Sollten die Bilder den Text beglaubigen oder eine hinter dem Text verborgene, außersprachliche Wahrheit aufdecken? Sollte die fehlende Farbe, ihr monochromer Charakter, das Vergängliche hervorheben oder noch besser konservieren? Geäußert wurde, die Gegenwartsform des Textes nehme einem stärker mit in die vergangene Zeit. Die Fotos verstärkten den Text, machten ihn realistischer, regten das Sich-erinnern noch weiter an. Farbfotos hätten womöglich abgelenkt.
Auch der nach der Pause von der Autorin vorgetragene Text, in welchem sie unter Bezugnahme auf Ovids Metamorphosen die alten Geschichten der wartenden, sich erinnernden Penelope und des in den Hades hinabsteigenden, sich ebenfalls erinnernden, dann aber sich zu seiner Erinnerung umblickenden Orpheus, leicht abgewandelt erzählte, ging es um Erinnern und Vergessen. Denn die Klammer um die beiden Geschichten von Penelope und Orpheus bot der Autorin der Fluss Lethe und dessen Bedeutung. In der kurzen Diskussion wurde u.a. herausgearbeitet, dass Erinnerung auch lähmen kann. Und dass das Erzählen, die Literatur überhaupt, den Sinn hat, Erinnerung zu bewahren gegen das Vergessen. – Ein erkenntnisreicher Abend also. Autorin und Publikum waren gleichermaßen zufrieden; lautstarker Beifall zum Schluss.
Abendbericht von USN
Fotos von Simone Kayser