Tanja Rupel Tera las an diesem Freitag wie angekündigt zumeist kurze Texte, deren Einordnung in klassische Gattungen wie Prosa, Lyrik oder Aphorismen durch die Autorin gekonnt in der Schwebe gehalten wurde. Sie nannte ihre Texte zwar selbst hilfsweise ‚Miniaturen‘, ‚Gedichte‘ ‚Kurzgeschichten‘ und ‚Skizzen‘. Die trugen auch allesamt keine Titel, die den reichlich erschienen Zuhörern bei irgendeiner Zuordnung Hilfestellung hätten leisten können. Zudem eröffnete die Autorin ihre Lesung mit dem Satz „Ich weiß selbst noch nicht, was ich lese“ und betonte damit zusätzlich das Offene, Schwebende, Vorläufige ihrer Texte und ihres zu den Texten passenden Vortrages.
Denn die eigentümliche Prägnanz, die besondere Betonung und ein spezifischer Rhythmus dieses Vortrages sind wesentlicher Bestandteil der Texte der Autorin. Wer sie einmal gehört hat, kann sich ihre Texte ohne ihre Stimme kaum mehr vorstellen. Ein Grund für diesen engen Zusammenhang zwischen Text und Vortrag mag – neben der Tatsache, dass die deutsche Sprache, in der sie schreibt, nicht ihre Muttersprache ist – ihre poetische Vorgehensweise sein: Nämlich die mitunter überraschenden Verbindung und Gegenüberstellung alltäglicher Dinge und Gegenstände (gedankenlose Gläser, verlorene Augen) mit pathetischen Genitivkonstruktionen (Umarmung der Gnade; Himmel der Tänze) zu wagen, welche die Texte der Autorin durchwirken, ihre sprachliche, mitunter ungewohnte Betonung sehr bestimmen und so bei den Zuhörern eigenwillige Bilder evozieren.
Einige weitere Beispiele für solch poetischen Konstruktionen: Ich schreibe mich in ein träumendes Heft; Langsam frisst das Wasser unsere Sprache; Gehen die Hände hoch, versammeln sich die Schatten der Finger zum Gebet; die gesparten Küsse kullern; bald erblinden die Felder; die Zukunft springt über ihre Schatten: es markiert mich die Stelle, wo der Zufall entsteht; getarnt als Hundejahre, gehen die Minuten vorbei, usw.
Diese und nicht die auf der Textoberfläche erscheinenden, (z.T. autobiographischen oder auch autofiktionalen) Handlungen des lyrischen oder erzählenden Ichs waren daher mehrheitlich Gegenstand der ausführlichen, ganz überwiegend zustimmenden Diskussionen des oft spontan Zwischenbeifall spendenden Publikums. Aber nicht immer schienen den Zuhörinnen und Zuhörern solche Konstruktionen geglückt, wenn sie z.B. von Begriffen wie Unendlichkeit, Dunkelheit oder anderen ‚abgegriffenen‘ Wörtern geprägt waren (Haut der Zeit). Da sei nun doch zu dick aufgetragen, hieß es.
Es war die Autorin selbst, welche die Rolle ihrer Fremd- und Zweisprachigkeit im eigenen Schreibprozess zum Diskussionsthema machte. Anlass war einmal die Frage einer Zuhörerin, ob sie denn direkt auf Deutsch schreibe, (was die Autorin bejahte) und zum anderen ein Prosastück, in welchem Wörter und Begriffe aus dem Bulgarischen eingebaut waren und eine Rolle spielten, also die Zweisprachigkeit gewissermaßen mit zum Thema machten. Jetzt, nach 20 Jahren in Deutschland, erzählte die Autorin, könne sie mit ihrem Deutsch souverän umgehen (was ihre Texte eindrucksvoll bestätigen). Im Übrigen, lernten die Zuhörer, sei der 24 Mai, von ihr bewusst als Tag ihrer Lesung ausgewählt, der Tag der bulgarischen Kultur und der slawischen Schrift und daher auch der Tag der Slawenapostel Kyrill und Method, die die erste Schriftform der (alt)slawischen Sprache schufen.
Neben weiteren kurzen, sprachspielerisch-komischen Prosaskizzen (trinke Kaffee hinter der Zeit; jeder Satz trocknet mir zu schnell aus), trug die Autorin in der zweiten Hälfte des Abends eine autobiographisch geprägte, beeindruckende und ernste Erzählung über ihre Kindheit vor (als sie versuchte, auf einem Besen sitzend mit der magischen Kraft reiner Vorstellung, die Treppe hinunter zu fliegen), über das Erwachsenwerden, über das plötzliche Erwachsensein (vom Blitz der Zeit getroffen), als sie auf jener Treppe plötzlich einer schweigenden Schulfreundin aus jener Kindheit gegenüberstand. War sie nicht gerade unterwegs, um die Asche der Mutter hinter dem Haus zu verstreuen?
Den überzeugenden Beifall, den die Autorin am Ende des Abends erhielt, war zurecht einer der lautesten und längsten, an den sich der Berichterstatter erinnert.
Abendbericht: Ulrich Schäfer-Newiger
Fotos: Franz Westner