Erinnerungen können trügerisch sein. Diese Gewissheit verändert die Vorstellung von Wahrheit ebenso wie die Wahrnehmung des Geschehenen. Was wirklich geschehen ist? In Ulrich Brauns zweiter Lesung aus seinem Romanprojekt „Immerzu Abschied“ im Münchner Literaturbüro ist die Wahrheit fast ausnahmslos. Lauscht man seinen Texten, erscheinen sie detailgetreu die Geschichte seiner Familie nachzuerzählen. Ulrich Braun beginnt mit dem Auszug „Napola“. In diesen nationalpolitischen Erziehungsanstalten soll die Elite des Dritten Reiches ausgebildet werden. Dort galt es, im Besonderen zwei Dinge zu lernen: gehorchen und führen. Das Kapitel erzählt die Geschichte des noch jugendlichen Günter auf Schloss Reigen bei Lissa, Posen. Hier lernt Günter, was es heißt, sich zu stellen, Mut zu zeigen. So gilt es, bei der jährlichen Geländeübung der gegnerischen Truppe das Wollbändchen vom Handgelenk zu reißen, um zu siegen. Günters Gruppe wird in eine Falle gelockt. Auf der Flucht, so heißt es im Roman, „muss man nicht unbedingt schneller sein als die Jäger. Oft genügt es, ein bisschen schneller zu sein als das langsamste Beutetier.“ Günter ist ein wenig schneller als sein Freund Walter, der prompt gefangengenommen wird. Günter muss entscheiden zwischen Kampf und Hilfe für seinen Freund oder Rückzug und Verstärkung holen. Das alles klingt nach Pfadfindern und Jungenabenteuer. Doch es ist die Vorbereitung auf die Ideologie des Nationalsozialismus. In der Episode sind zudem viele unterschwellige Geschichten eingewebt, von der latenten Homosexualität in der Gruppe, dem Gruppenzwang, den Erniedrigungen bin hin zu dem Gefühl, Teil von etwas Besonderem zu sein. Ulrich Braun erzählt kunstvoll. Auch zwischen den Lesungen weiß er mit zahlreichen Anekdoten die Erzählstränge und die Familienbande zu knüpfen.
Kritik seitens des Publikums gibt es wenig. Es sind eher Nachfragen, Verständnisfragen, die der Autor souverän zu beantworten weiß. Auch hier drängt sich uneingeschränkt das Gefühl auf, das Erzählte sei genauso abgelaufen und habe genauso stattgefunden, wie im Roman dargestellt.
Dass Ulrich Braun auch ein szenischer Erzähler ist, der die Wahrheit literarisch gestaltet und für sich nutzt, lässt er im zweiten Teil des Abends erkennen. „Totes Rennen“ erzählt von Herbert, von dem es in der Familie heißt, er sei in der SS gewesen. Ob dies tatsächlich so war, ist nicht gewiss. Mit psychologischem Einfühlungsvermögen erzählt der Autor von Familiengesprächen und der schwierigen Suche nach den wahren Begebenheiten. Der Vater, um den sich viel in der Geschichte dreht, bringt Erinnerungen durcheinander oder besteht auf Ereignissen, die so tatsächlich nie haben stattfinden können. Auch Onkel Herberts Mitgliedschaft in der SS wird niet endgültig erklärt, ebenso wenig sein Tod. Dass der Autor diese „Lücke“ in der Recherche seines Familienlebens geschickt zu füllen weiß, zeigt dieser zweite Teil des Abends mit „Totes Rennen“. Es erzählt, wie Herbert im Winter auf Patrouille auf Langlaufskiern in den Wäldern Estlands durch das Gelände spurt. Er entdeckt einen weiteren Langläufer, einen russischen Soldaten, der sein Gewehr an eine Birke gelehnt hat und seine Runden dreht. Herbert wartet nicht auf die Gelegenheit, den Feind zu erschießen, sondern lehnt sein Gewehr zu dem des Russen und reiht sich in die Spur des russischen Läufers ein. Zwischen beiden beginnt ein stiller, unausgesprochener, aber dennoch einvernehmlicher Wettkampf. Für einige Runden schweigt der Krieg. Kurz vor dem Ziel werden beide jedoch von fast gleichzeitigen Gewehrschüssen niedergestreckt. Zwei Patrouillen, eine russische und eine deutsche, zerstören die Idylle des sportlichen Wettkampfs und holen die Zuhörer zurück in den Krieg. Ein wundervolles, filmreifes Bild, wie das Publikum feststellt. Obschon hier ausnahmsweise spürbar ist, dass der Autor in seinem Manuskript Regie führt und die Wahrheit literarisch formt. Kaum als wahrlich geschehen zu empfinden, dass beide Läufer fast gleichzeitig von zwei gleichzeitig auftauchenden feindlichen Patrouillen ausgelöscht werden. Hier schwingt beinahe ein wenig Kritik aus dem Publikum mit, wenn, ja wenn es nicht eine so herrlich epische Szene wäre.
Man glaubt Ulrich Braun so ziemlich alles, was er in dem Roman „Immerzu Abschied“ aufgreift. Zeitkolorit, Sprache, Figurenzeichnung sind so gut recherchiert und glaubhaft, so nachdenklich, reflektierend angelegt, dass er sein Publikum rundweg für sich einzunehmen weiß. Die Wahrheit natürlich: Es muss nicht alles so geschehen sein, und dennoch ist es wahr. Es ist schließlich ein Roman.
Abendbericht: Franz Westner
Foto: Jannette Hofmann