Der Autor Norbert Wollschläger knüpfte an diesem Abend an seine Lesung vom 28. Oktober 2022 an und trug weitere, kürzere Texte aus seinem Romanprojekt WETTERLEUCHTEN vor. Zur Einstimmung freilich las er zwei Texte von Kurt Tucholsky und Erich Kästner: Tucholskys zynisch-ironischen Artikel zum bevorstehenden Krieg aus dem „Vorwärts“ vom 30.7.1914 und Kästners Gedicht „Mutters Hände“ aus dem Jahre 1929.
Sodann imaginierte der Autor aus der Innenperspektive des Tucholsky, der sich in einem Spiegel betrachtet, dessen Gedanken und Überlegungen, die zu dem zuvor gelesenen Artikel im Vorwärts führten.
Alle anderen vorgetragenen Texte erzählten mehr oder weniger im Berichtsstil aus der Perspektive des auktorialen Erzählers von, allgemein formuliert, Begebenheiten aus den 20iger Jahren des vorigen Jahrhunderts: Kästner am Bankschalter, Kästner im Berliner Café Josty, in der Gabelsberger Kurzschrift Blätter beschreibend und mit dem Kellner plauschend (nicht ohne ein Leporello berühmter Namen von Dichtern und Denkern vorzulesen, die auch dort zu verkehren pflegten), wie Kästner dazu kam, die Idee zu seinem erfolgreichsten Roman ‚Emil und die Detektive‘ zu entwickeln und zu schreiben, Kästner im Gespräch mit einer Buchhändlerin über seine äußerst ungerecht-schlechten Verdienstmöglichkeiten als Dichter – im Gegensatz zu Remarque und seinem berühmten Roman. Zuvor las der Autor eine schon im Oktober einmal vorgetragene und ausführlicher ausgearbeitete Geschichte, in welcher der Schüler Golo Mann dem Adolf Hitler einen Schneeball an den Kopf warf. Schließlich fanden die Zuhörer sich in Landrino, Tessin wieder, wo auf einer Wiese ein Flugzeug landete und mit antifaschistischen Flugblättern beladen wurde, die über Mailand abgeworfen werden sollten. Dieses Flugzeug hörte in der nächsten Geschichte der reiche, aus Hamburg stammende, jüdische Kaufmann Max James Emden, im Schloss auf der von ihm gekauften Isola Brissago im Schweizer Teil Lago Maggiore.
Gleichsam als Kitt, der diese hier sehr verkürzt wiedergegebene Geschichten aus dem „Jahrzehnt der verspielen Freiheit“, wie der Untertitel des geplanten Romans von Norbert Wollschläger lautet, zusammenhielt, wirkten die umfangreichen Erklärungen und Unterrichtungen des Autors über die jeweiligen geschichtlichen Begleitumstände. Besonders aber legte der Autor wiederholt Wert auf die Feststellung, dass er alles genau in Archiven und in Gesprächen mit Fachleuten recherchiert habe, so dass die geschilderten, äußeren Umstände in den Geschichten alle der Wahrheit entsprächen. Sie müssten ja stimmen. An der Frage, welche Funktion für den Roman und sein Schreiben denn dieses wiederholte Beharren, die geschilderten äußeren Begebenheiten seien alle wahr, habe, entzündete sich immer wieder die Diskussion darüber, welcher Gattung denn sein Text angehöre. Ob es sich um eine Fiktion oder einen historischen, auf Fakten basierenden Bericht handele, woran man denn das eine vom anderen im Text unterscheiden könne. Vor allem die Golo-Mann-Geschichte wurde unter diesem Aspekt kritisch gesehen. Der Autor warf den Begriff „Faktion“ (vielleicht auch ‚Faction‘ geschrieben) in die Diskussion. Dies spricht für eine nicht klar abgrenzbare Mischung aus beidem. Geklärt werden konnte die interessante Frage an diesem Abend nicht. Aber Applaus zwischendurch und am Ende.
Bericht von USN