Ein Leben im Anzug – aber ganz anders – Abendbericht vom 17. Februar 2023

Carlos heißt der kleine Junge, dessen Anzug im Mittelpunkt des Romanprojekts von Ursula Herzog steht. Ursula Herzog war Fachlehrerin für Sport an sonderpädagogischen Einrichtungen und arbeitet mittlerweile in eigener Praxis als Physiotherapeutin, Osteopathin und Cranio-Sacral-Therapeutin.

Der Anzug hat – wie schon die Ankündigung zur Lesung vermuten lässt – nichts mit einem Kleidungsstück zu tun. Er stellt vielmehr eine Metapher dar für die Wahrnehmungsstörung des Protagonisten Carlos, um die es im Roman geht. Ist es ein Roman? Die Frage wird im Verlauf des Abends gestellt werden.

Ursula Herzog stellt dem Roman eine fachliche Einführung voraus. In dieser führt sie in die Thematik ein, was eine kinnästhetische Wahrnehmungsstörung für ein Kind wie Carlos bedeutet. Reize von Berührungen oder Bewegungen nicht richtig einschätzen, Geräusche nicht zuordnen zu können, führen schnell zu verbalen und körperlichen Ausbrüchen.
Im anschließenden zweiten Textteil lässt die Autorin Carlos selbst zu Wort kommen. „Mein Leben im Anzug“ macht den Jungen nahbar. Es wird spürbar, wie schwer es Carlos fällt, sich in der Gemeinschaft mit anderen Kindern einzubringen, wie wichtig, dass er sich Auszeiten nehmen und damit die Reizüberflutungen verarbeiten kann. Der Text kommt in klaren, kurzen, auch einfachen Sätzen daher und macht es dem Publikum leicht, Carlos Innenleben zu folgen. Auch wenn – wie vom Publikum angemerkt wird – nicht jede Beschreibung der eines Kindes im Kindesalter entspricht, gewinnt der Roman hier Kontur und macht neugierig.

In den nachfolgenden Auszügen aus dem Roman zeigt die Autorin die Konflikte, die sich im Umgang mit Carlos Wahrnehmungsstörung ergeben. Sein erster Schultag – eine Mischung aus Vorfreude, Aufregung und Neugierde bei Carlos – aus Freude, Hoffnung und Sorge bei seiner Mutter. Carlos wird als aufgeweckter, recht selbstständiger Junge dargestellt, der den ersten Schultag gut übersteht. Aber in der Folgezeit häufen sich die Probleme. Ursula Herzog stellt eine Szene in der Schulstunde dar, in der Carlos und seine Mitschülerinnen und -schüler schreiben lernen. Carlos hat kein Gefühl für den Bleistift und drückt so fest, dass dessen Spitze bricht. Wütend schleudert er den Stift in die Ecke. Kurz darauf gerät er in einen Streit mit seinem Mitschüler Rudi. Im Streit grätscht er ihn um. Nach dem Pausengong erscheint Carlos nicht mehr im Unterricht.

In diesen Passagen zeigen sich Licht und Schatten des Romans. Die Neugierde auf das Erleben des jungen Carlos, die in „Mein Leben im Anzug“ angeregt wurde, lässt die Autorin hier zu kurz kommen. So bleibt sie z.B. nicht bei dem jungen Carlos, als dieser nicht in die Klasse zurückkommt, sondern springt zurück zur Lehrerin und einer übergeordneten, auktorialen Erzählperspektive, die Distanz zwischen Leser/Zuhörer und Hauptfigur schafft. Das ist schade, denn das literarische Vermögen der Figur Carlos wurde in „Mein Leben im Anzug“ durchaus aufgezeigt.

Im letzten Teil der Lesung kämpft Carlos Mutter um den Verbleib ihres Sohnes in der Grundschule. Die Klassenlehrerin von Carlos sieht sich außer Stande, die Verhaltensauffälligkeiten in der Schulklasse abfangen zu können. Dieser Position gegenüber beharrt Carlos Mutter darauf, dass Schule auch für Kinder offen sein muss, die nicht in die standardisierte Form des Unterrichts passen. Das ist eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit dem Wunsch nach Inklusion und der Realität ihrer Umsetzung. Carlos Mutter erläutert dabei eindringlich, welcher Art Carlos Wahrnehmungsstörung ist und wie ihr auch seitens der Lehrerin entgegengewirkt werden kann. Spätestens hier zeigt sich, dass die fachliche Einführung zu Beginn der Lesung nicht nötig gewesen wäre, denn viele Aspekte werden von Carlos Mutter nochmals, dabei in erzählerischer Form dargestellt.

Um auf die Frage zu Beginn der Nachbesprechung zurückzukommen: Ist es ein Roman? Das Publikum, dem an dieser Stelle für die vielen interessanten und anregenden Gespräche gedankt sei, ist der Eindruck eines Hybrids entstanden. Romanhafte Passagen und Passagen eines Sachbuchs vermischen sich in „Mein Leben im Anzug – Carlos Wahrnehmungsstörung“. Das jedoch dürfte durchaus so gewollt sein. Wie Carlos all die weiteren Herausforderungen meistert? Das wird Ursula Herzog auf Nachfrage und mit Fertigstellung dieses pädagogisch angeregten Buchs sicher gern beantworten.

Abendbericht: FW
Foto: Wolfram Hirche