Festvortrag zur 40-Jahr-Feier des Münchner Literaturbüros am 9. November 2024

Von Rainer Kegel

Der Anlass unserer heutigen Feier ist die Tatsache, dass vor rund 40 Jahren, nämlich am 4. September 1984, das Münchner Literaturbüro in das Vereinsregister eingetragen wurde. 40 Jahre sind eine lange Zeit, in der viel geschehen ist, weshalb ich versuchen werde, den nachfolgenden Abriss über die Vereinsgeschichte möglichst kurz und knapp zu gestalten.

Tatsächlich sind 40 Jahre zu eng gegriffen, denn bereits seit 1978 trafen sich Literaturinteressierte regelmäßig im Haidhausen-Museum zu ersten Werkstattgesprächen. Es war das Verdienst von Kay Ken Derrick, mit bürgerlichem Namen Johann Christoph Dietrich Bangert, diese Treffen durch eine Vereinsgründung zu institutionalisieren und zugleich die heute noch genutzten Vereinsräume in der Milchstraße 4 anzumieten.

Die Idee hinter dem Literaturbüro war, dass Literaturinteressierte, insbesondere solche, die sich auch selber im Schreiben von Literatur versuchten, nicht nur den Autoren lauschen und ein paar Fragen in der Art „Ist das auch autobiographisch?“ stellen wollten, sondern als Zuhörer Gelegenheit haben wollten, ihre Meinung zu Form und Inhalt des Vorgetragenen zu äußern.

Einiges in den Werkstattgesprächen folgte in Anlehnung an die Gruppe 47, so die offene, in früheren Jahren teilweise scharfe, spontan geäußerte Kritik der Teilnehmenden, und auch die Form der Lesung, bei der sich der vortragende Autor stets auf den freien Stuhl neben den Moderator setzte, sowie die Maxime, dass der Vortragende sich nicht verteidigen soll und dass die Kritik der konkreten Texte im Mittelpunkt steht. Grundsatzdiskussionen literarischer oder politischer Art werden auch heute im MLb konsequent unterbunden. Anders als bei der Gruppe 47 aber ist das Münchner Literaturbüro kein Club, den nur persönlich eingeladene Autoren betreten dürfen; vielmehr sind alle willkommen, die sich der Kritik des Publikums stellen. Jeder und jede Interessierte kann sich daher für einen freien Lesetermin anmelden. Lange Jahre erfolgte dies durch einen Eintrag in eine im MLb aufliegende Leseliste, zwischenzeitlich erfolgt die entsprechende Anmeldung per E-Mail.

Der erste Vereinsvorsitzende Kay Ken Derrick war kaum ein Jahr lang als solcher tätig, ihm folgten in den 1980er Jahren Virgilio Iafrate, Philine Meyer-Clason und Klaus Pemsel. 1991 übernahm Petra Lang dieses Amt, 1996 und 97 war Jörg Schön Vereinsvorsitzender, 1998 und 1999 Armin Steigenberger, dann erneut Petra Lang. 2006 wurde Stein Vaaler erster Vorsitzender, gefolgt von Beppo Rohrhofer 2011 und Wolfram Hirche 2019. Seit 2022 habe ich dieses Amt inne.

Die wöchentlichen Autorengespräche, also die Freitagslesungen, waren und sind der Kern der Aktivitäten des MLb. Am gestrigen Tag fand die 2172ste derartige Lesung statt. „Im Werkstattgespräch“, so schreiben Michael Basse und Eckart Pfeiffer in der Einleitung zu ihrem 1987 erschienenen Handbuch über Literaturwerkstätten und Literaturbüros in der Bundesrepublik, geht es „nicht ums Veröffentlichen, um das Publikum, um die ‚Vermarktung‘, sondern um die literarische Auseinandersetzung, also das Ringen um eine eigene Sprache, eine angemessene Form, die das Prädikat ‚poetisch‘ verdient; um den Teufel im Detail – im eigenen Text und den Texten der anderen. Auch die Literaturwerkstatt vermittelt Literatur, aber nicht nach außen, sondern nach innen – den Schreibenden selbst.“

Im Laufe der letzten 40 Jahre haben eine ganze Reihe von Autoren, die damals oder später bekannt, teils sogar berühmt waren, Texte bei den Freitagslesungen vorgetragen, so Tiger Willy, Jaromir Konecny, Ralf Bönt, Grög, Ze do Rock, Wolfgang Bächler, Wolfgang Köppen, Herbert Rosendorfer, Ursula Haas, Dietrich Krusche, Asta Scheib, Gerhard Köpf, Christian Enzensberger, Joseph von Westphalen, Lutz Rathenow, Ulrich Holbein, Uwe Tellkamp.

Neben den wöchentlichen Autorengesprächen in der Milchstraße fanden auch im Rahmen anderer Veranstaltungen wiederholt Lesungen mit Mitgliedern des MLb bzw. dem MLb nahestehenden Autoren statt, so 1996 bei der Eröffnung der neuen Münchner Messe, in den Nullerjahren bei den Haidhauser Ateliertagen „Obacht – Kultur im Quartier“ sowie am Bordeauxplatz, im Künstlerhaus 1STEIN28 und auf dem Corso Leopold.

Aus Texten von Mitgliedern bzw. Lesenden bei den wöchentlichen Freitagslesungen entstanden auch Veröffentlichungen. 1999 gab der damalige Vorsitzende Jörg Schön die „Literarischen Steine“ heraus, wozu er 53 von 4000 Gedichten aus dem Gedichtefundus des MLb sowie drei Kurzgeschichten herausgeklaubt und entschlackt hat. Im „Kindheitsbuchprojekt“ haben Hans-Karl Fischer, Uschi Dimper, Evelyn von Heimburg und Petra Lang von 2002 bis 2006 Kindheitsgeschichten gesammelt, redigiert und die Anthologie „schöneböse kindheit“ zusammengestellt. Die Autorinnen und Autoren des Buches führten in immer neuer Zusammenstellung Lesungen in allen Stadtvierteln Münchens und im ganzen Umland durch.

Vor allem in den Anfangsjahren organisierte das Literaturbüro auch einige sich über mehrere Tage erstreckende besondere Veranstaltungen, so die Haidhauser Büchertage. Sie entstanden aus der Idee, verschiedene Münchner Kleinverlage, Zeitschriften und Autorengruppen in Form einer Ausstellung mit begleitenden Lesungen vorzustellen. 1987 erstreckten sich die Büchertage noch über zwölf Tage und fanden in der Künstlerwerkstatt Lothringerstraße 13 statt. Neben Autorenlesungen gab es eine Podiumsdiskussion zum Thema „Was verbindet bzw. was trennt Literaturgruppen in München?“

1988 war das Thema der Büchertage „Das Frauenbild in der Literatur / Frauen im Literaturbetrieb“. 1989, kurz vor der Wende, veranstaltete das MLb „Literatur hoch drei“, eine Begegnung zwischen Autoren und Autorinnen aus München, aus Ost-Berlin und aus West-Berlin. Vom Prenzlauer Berg waren dazu Sascha Anderson, Reiner Schedlinski, Bert Papenfuß, Ulrich Zieger, Jan Faktor u.a. eingeladen; aus München und West-Berlin Barbara Maria Kloos, Christoph Schwarz, Sigi Haiplik, Peter Thalheim, Werner Brocke, Elisabeth Merey-Kastner, Ute Erb und viele andere. 1990 waren „Grenzgänger“ aus deutschsprachigen Nachbarländern zu Gast; 1992 Redakteure und Herausgeber verschiedener Literaturzeitschriften; 1993 veranstaltete das MLb ein zweitägiges Symposium unter dem Titel „Jetztzeit. Politik und Verbrauchskultur in der Literatur bis 1998“. 1995 dauerten die Haidhauser Büchertage noch ganze drei Tage, 2000 waren es noch zwei Tage mit Literaturzeitschriften, 2002 kamen Kleinverlage.

Allerdings zeigte sich ein deutlich nachlassendes Publikumsinteresse an dieser Veranstaltung, sodass sie in der Folge meist nur noch an einem Tag durchgeführt wurde, so 2006 mit Münchner Schreibgruppen und dann gar nicht mehr. Die letzten Büchertage fanden 2012 statt, damals wieder an zwei Tagen, unter dem Motto „Verlage, Vorträge und Dichterlesungen rund um das Thema Lyrik“; 2016 zum Thema Self-Publishing mit Einblicken in Coaching und Agenturverhalten und 2018 mit der Vorstellung zweier junger autonomer Münchner Verlage.

Aus den Reihen der Mitglieder des Münchner Literaturbüros entstanden auch zwei Literaturzeitschriften, nämlich 1992 die Literaturzeitschrift TORSO und 1999 die Zeitschrift ausser.dem, die auch heute noch regelmäßig erscheint.

Neben den Freitagslesungen gehört die Vergabe des Haidhauser Werkstattpreises zu den wichtigsten Aktivitäten des Münchner Literaturbüros. Zum ersten Mal wurde dieser Preis 1991 im Rahmen der 12. Haidhauser Büchertage vergeben. In den Neunzigerjahren bis ins Jahr 2000 schrieb das MLb den Preis jährlich abwechselnd als internen und als überregionalen Preis in den Sparten Prosa und Lyrik aus. Der überregionale Preis wurde öffentlich ausgeschrieben und die mehreren Hundert Einsendungen, die so zusammenkamen und die mit einer Startgebühr von 10 DM zur Finanzierung des Preises verbunden waren, wurden anonymisiert von einer Jury bewertet, die eine Auswahl an Kandidaten traf. Unter diesen wurde der Preisträger dann von Anfang an aber nicht von einer Jury, sondern in einer öffentlichen Veranstaltung mit anschließender Abstimmung vom Publikum gewählt. Beim internen Preis hingegen wurden die Kandidaten vom Vorstand des Münchner Literaturbüros bestimmt. Dies führte allerdings zur Kritik und dem Vorwurf, dass der Vorstand in erster Linie Vorstandsmitglieder als Kandidaten aufstelle. Deshalb wurde der Wettbewerb 2003 zu einem reinen Publikumspreis umgewandelt. Seitdem werden die Kandidaten für das Finale am ersten Freitag jedes Monats in einem sog. Offenen Abend von den Zuhörern gewählt. Der Autor bzw. die Autorin mit den meisten Stimmen darf sich dann zusammen mit den anderen übers Jahr gewählten Kandidaten beim Finale der Abstimmung durch das Publikum stellen. Zurzeit finden am jeweils ersten Freitag im Monat die Vorausscheidungen für den 32. Haidhauser Werkstattpreis statt. Er ist mit 500 Euro dotiert.

Neben dem Haidhauser Werkstattpreis hat das Münchner Literaturbüro in der Zeit von 2010 bis 2015 auch den Lyrikpreis München vergeben. Dieser fand jährlich statt und war mit 1.000 Euro dotiert, hinzu kamen teilweise Förderpreise für die Zweit- und Drittplatzierten. Der Lyrikpreis München wurde zweistufig ausgetragen. Eine Vorjury wählte aus den Einsendungen sechs bis acht Bewerber für die in der Regel drei Vorauswahlabende aus, die als öffentliche Lesungen stattfanden. Eine unabhängige Jury aus Literaturwissenschaftlern und Lyrikern nominierte die Finalisten, die zur ebenfalls öffentlichen Abschlusslesung im Vortragssaal der Bibliothek im Münchner Gasteig eingeladen wurden. Hier bestimmte eine erweiterte Jury die Preisträger. 2015 wurde dann ein eigener Trägerverein, der Lyrikpreis München e.V. gegründet, der seitdem den Preis ausrichtet.

In den Anfangsjahren des Literaturbüros gab das MLb auch eine Mitgliederzeitschrift, das Literatur-Bulletin, heraus, das im September 1985 das erste Mal erschienen ist.

Im Jahr 2007, nachdem die Landeshauptstadt München die Herausgabe des Münchner Literaturblatts, einer kostenlosen Zeitschrift mit Terminen für literarische Veranstaltungen, eingestellt hatte und in der Folge einen Besucherrückgang bei Lesungen und Autorengesprächen feststellte, reifte im MLb die Idee, eine derartige Zeitschrift in eigener Regie herauszugeben. Nach umfangreichen Vorarbeiten und Auseinandersetzungen mit anderen Interessenten für die Herausgabe einer solchen Zeitschrift kam es dann im März 2008 zur Herausgabe der Nullnummer der LiteraturSeiten München, die als kostenlose Informationsquelle seither an zahlreiche Buchhandlungen und andere Orte verteilt wird und die elfmal im Jahr erscheint. Möglich ist dies nur durch das Engagement ehrenamtlich tätiger Redakteurinnen und anderer Mitarbeiter, bei denen ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte ebenso wie bei der Landeshauptstadt München dafür, dass die Herstellung der Zeitung maßgeblich durch das Kulturreferat gefördert wird, da die ursprüngliche Idee, dass sich die Zeitschrift durch Werbung selbst finanziert, nie auch nur ansatzweise realisiert werden konnte.

Damit komme ich zum Schluss. Da ich versucht habe, mich kurz zu fassen, kann dieser Überblick nicht sämtliche Aktivitäten des Literaturbüros in den letzten 40 Jahren enthalten, ich glaube aber doch, dass ich die wichtigsten hier vorgestellt habe.

Zum Abschluss möchte ich mich bei der Landeshauptstadt München für die kontinuierliche Förderung der Aktivitäten des Literaturbüros – neben den LiteraturSeiten – bedanken und noch einen Moment der bereits verstorbenen Vorsitzenden und Vorstandsmitgliedern gedenken, wie Kay Ken Derrick, Klaus Pemsel, Wilfried Taschner, Elisabeth Merey Kastner, Dieter Conen, Elisabeth Heinze, Arndt Wuillemet, Wolfgang Weinkauf, Jörg Schön und Hans-Karl Fischer.

In den vergangenen 40 Jahren wurde das Münchner Literaturbüro schon manches Mal totgesagt oder dessen Ende prophezeit. Obwohl es seit 1984 nicht nur im literarischen Leben, sondern mit dem Internet und den sozialen Medien (beides 1984 noch unbekannt) auch in der Medienlandschaft große Veränderungen gegeben hat, lebt das Münchner Literaturbüro noch immer. Es wird auch noch weiterleben, jedenfalls solange es Autorinnen und Autoren gibt, die ihre Texte einem kritischen Publikum vorstellen möchten, und zwar in persönlicher Begegnung und nicht nur im virtuellen Raum des Internets, und solange es ein Publikum gibt, das bereit ist, sich literarische Texte wechselnder Qualität anzuhören und hierzu das Literaturbüro aufzusuchen.