Der Themenabend „Abschied“ war von lesewilligen Autorinnen und Autoren so gut besucht, dass sie bei weitem in der Überzahl im Vergleich zu den ‚nur‘ zuhörenden Besuchern waren. Zehn Texte recht unterschiedlicher Art kamen auf diese Weise zum Vortrag. Zwar hatten sie alle in der einen oder anderen Form „Abschiede“ zum Inhalt und hinterließen jeweils mehr oder weniger deformierte Protagonisten. Aber im Einzelnen waren sie doch recht unterschiedlich aufgebaut, sprachlich differenziert konstruiert, mit z.T. überraschenden Plots.
Den Anfang machte Marion Haass-Pennings mit einem Ausschnitt aus ihrem Romanprojekt mit dem Titel „Mutter/Kuchen“. Es ging darin um die bevorstehende Herz-Operation der Mutter der Erzählerin, die aber insgeheim annahm, dass die Mutter daran oder an den Folgen sterben werde. Dennoch tat sie ihr gegenüber so, als werde sie danach wieder nach Hause kommen oder aber wenigsten einen Pflegeplatz erhalten. Erst durch das gemeinsame Ausfüllen von ‚persönlichen Angaben‘ in entsprechenden Antragsformularen kamen die beiden offenbar in ein näheres Gespräch über persönliche Dinge (Vorlieben, bisher Unausgesprochenes usw.). Der Abschied bestand hier in der Vorstellung oder der Phantasie der Protagonistin über das bevorstehende Sterben der Mutter. Wie es tatsächlich weiterging, ergab sich aus dem vorgelesenen Auszug nicht.
„Abschied“ hieß die Geschichte von François Bry, die während der 30iger-Jahre in München spielt: Die aus St. Petersburg geflohene Natascha trifft im Speisesaal eines Hotels ihren neuen Freund, der sie dort aber überraschend in der Uniform „der neuen Ordnung“ empfängt. Dabei schwadroniert er über seinen Beitrag, den er für diese „neue Ordnung“ leisten will, redet von Blut und Toten, während Natascha zunehmend trauriger wird, schweigt und ihn reden lässt. Und sich am Ende entschließt, sich von diesem Mann zu verabschieden, den nächsten Zug nach Paris zu nehmen um ihn in seiner Uniform allein zurück zu lassen. In der anschließenden Diskussion wurde vor allem die lakonische Sprache hervorgehoben, mit der dieser kurze, unprätentiöse Abschied aus Gründen, die sehr aktuell anmuteten, präzise beschrieben wurde.
Günther Mitschke las drei ganz kurze Grotesken über Abschiede vor, wobei die erste und die letzte hervorstachen: In der ersten versucht ein Selbstmörder einen ganz korrekten, sprachlich einwandfreien Abschiedsbrief zu schreiben, was ihm aber nicht gelingen will, so dass er nicht zur Selbsttötung kommt. Die dritte Geschichte bestand aus zwei Wörtern: „Zeitenwende – Ampelende.“
In einer Gruppentherapiestunde spielte die gedankliche und sprachliche Rekonstruktion eines langen, langsamen, quälenden Abschiedes des Protagonisten von seinem zunächst „unzertrennlichen“ Schulfreund. Patrick Erdmann las diesen Ausschnitt aus einem Romanprojekt ausdrucksvoll und vehement aus der Ich-Perspektive von Lukas, der im Mittelpunkt der Gruppensitzung steht (alle anderen hören ihm erwartungsvoll zu) und von der Therapeutin vorsichtig befragt wird. Er redet sehr distanziert, fast emotionslos über das langsame Sich-Entfernen des vormaligen Freundes, dem er nichts entgegensetzt, sondern passiv verharrt. Selbst Geld, das er dem Anderen – ein äußerst „launischer Typ“ – einmal geliehen hatte, verlangte er nicht zurück. Jeder Auseinandersetzung mit ihm geht er aus dem Weg, „zu streiten habe ich nicht gelernt, wir entwickelten uns auseinander.“ Irgendwann hatten sich die beiden 18-jährigen, so erzählt es Lukas lapidar, „einfach nichts mehr zu sagen“. Einmal gehen beide noch Bergwandern, aber dies besiegelt den Verlust des Freundes endgültig. Der lebt fortan nur noch in der Erinnerung des Lukas. In der Diskussion wurden sowohl Vortrag als auch die Sprache des Autors und die gelungene Charakterisierung des Protagonisten gelobt.
Peter Heinrichs trug zwei Gedichte zum Thema vor: „Aschermittwoch“ und „Schwerelos“. Ersteres schien eine Abrechnung über das Dichten und Gedichte zu sein, „wenn Gedichte sterben“ hieß es darin oder: „mein Gedicht ist mein Pickel“, Rilke und Benn waren vernehmbar, „Verse die durch Jahrhunderte flogen“. Dass es sich dabei aber um eine Auseinandersetzung mit den Ansichten eines Literaturdozenten handelte, wurde erst in der nachfolgenden Diskussion klar. Das zweite Gedicht behandelte ebenfalls einen – entlastenden – Abschied: „Ich rollte einen Stein aus meinem Leben“.
Mit „Let it be“ betitelte Ulrich Braun seine Erzählung, die auf einer Nordseeinsel (nach unsicherer Erinnerung des Berichterstatters: Langeoog) spielt. Der Inselpastor radelt abends zum Hafen, um die Abendfähre abzupassen, weil er eine Passagierin – Birgit – erwartet. Allerdings ist unsicher, ob die Fähre wegen eines Sturmes überhaupt verkehrt. Heinz, der Pastor, aber hat Rückenwind, radelt schnell und stürzt in einem Art Lichtblitz mit dem Fahrrad. Als er am Boden liegend wieder zu sich kommt, sieht er Jojo, den Inselbestatter, auf einer Kutsche daherkommen, der ihm freundlich aufhilft. Freilich, fällt ihm da ein, ist dieser Jojo doch schon seit einer Woche tot und beerdigt. Außerdem hat er einen alten Zylinder auf dem Kopf und spricht einen Text aus einer Radioandacht von Heinz. Da dämmert dem Inselpastor, dass das alles nicht so sein muss, wie es ihm scheint. Mit dieser ungeheuren Ungewissheit bleibt er zurück, lebendig und möglicherweise zugleich tot. Dieser Plot wurde in der sich anschließenden Diskussion gelobt, Sprache und Inhalt mit einer Erzählung von Jon Fosse verglichen.
Nach der Pause trug Jannette Hofmann ihre Erzählung „Der Doppelstrich nach neun Jahren“ vor. Das war ein dramatischer innerer Monolog über die schmerzliche, z.T. gewaltvollen Trennungsprozess vom Partner und über die Erkenntnisse, die die Protagonistin daraus für sich zieht: „Der der bettelt, verliert. Von der Liebe wollte ich nichts mehr wissen.“ Bis es soweit war, beschrieb sie, wie sie sich selbst und die Wohnung vernachlässigte, wie sie Zweifel bekam und Verdächtigungen pflegte. Zuletzt drückte der Andere in einer Gewaltszene sie so fest am Hals, dass sich ihre Augen zu einem Doppelstrich verengten. Das war, als sie Fotos von einer anderen auf seinem Handy entdeckt hatte und grenzenlose Wut in ihr aufgestiegen war. Nach der Trennung war sie einerseits erleichtert – „endlich ist die Beziehungskiste beendet“, „ich brauche frische Luft“, andererseits fand sie erst wieder durch grünen Schimmel in ihrem Badezimmer in die Realität zurück. In der anschließenden intensiven Diskussion wurden widersprüchliche Bewertungen abgegeben. Die einen fanden den Text berührend, z.T. surrealistisch, mutig, die anderen kritisierten „wattige Begriffe“, fehlende Gefühle und eine gewisse Oberflächlichkeit.
Petra Langs Erzählung „Abschied“ spielte auf einer alten Mainschleuse, auf der die Protagonistin Mara stand und sich an glückliche Augenblicke und Zeiten erinnerte, die offenbar aus ihrer Kindheit in ihr aufstiegen: Erinnerungen an zerfließenden Honig auf einem Butterbrot und vor allem an eine präzise beschriebene Buttercremetorte, in die die Mutter dann mit einem großen Messer hineinstach. Es hieß dann über die sich Erinnernde: „Sie hatte es gesagt, das Abschiedswort.“ In der Diskussion wurde bemängelt, dass nicht klar geworden sei, wohin die Geschichte denn führe. Die Autorin ließ jedenfalls das sich langsam während der Diskussion herauskristallisierende Verständnis, dass es sich um einen Abschied von der Kindheit handelte, unwidersprochen.
Franziska Hielscher trug unter dem Titel „Taucherglocke“ die Geschichte einer Frau vor, die seit 25 Jahren um ihren toten Mann trauert. Alles hat sie im Flur mit seinem dort noch hängenden Mantel, in seinem Arbeitszimmer und auf seinem Schreibtisch unverändert gelassen. Im Laufe der Geschichte erfährt der Zuhörer, dass die Frau trauert, weil sie niemanden mehr hat, den sie für sich vereinnahmen, von dem sie Besitz ergreifen kann. „Wir waren doch ein gutes Gespann, wir beide.“ Schon den Tod ihres Mannes wollte sie anfangs nicht wahrhaben, im Krankenhauspark suchte sie ihn, weil sie glaubte, er ginge dort bestimmt spazieren usw. Jetzt will sie in ihren Sohn Christian in die Rolle ihres verstorbenen Mannes drängen, sie will ihn „ganz für sich allein“ haben. Er soll sein wie der Vater. Der hat das schönste Grab. Die Tochter allerdings ist widerspenstig und lässt sich auf die ihr zugedachte Rolle als unkritisches Kind nicht ein. Die anschließende Diskussion war z.T. sehr emotional – „die Geschichte hat mich wütend gemacht“, die negative Person sei überzeugend dargestellt. Die Autorin betonte, so etwas habe es in ihrem Bekanntenkreis tatsächlich gegeben.
Zuletzt trug Anke Lau stehend eine Art Kurzdrama oder Groteske (Titel: „Good by Paradise oder: Die Rippe muss raus“) vor, einen Dialog zwischen zwei Frauen – Eva und Lilith – , die entweder in einem Krankenhaus oder/und noch im Paradies verweilen und sich darüber streiten, aus wem nun die Rippe herauszunehmen sei. Gegenseitige Vorwürfe werden gemacht: „Hast Du etwa in den Apfel gebissen?“ „Ich will Autonomie.“ (Eva). Am Ende des verwirrenden Streits ertönt eine Stimme mit der Aufforderung: „Eva Paradise, kommen Sie bitte in den OP Wolke 7“
Für alle gab es nach dem überlangen aber sehr kurzweiligen, interessanten Abend anhaltenden und lauten Beifall. Auch dieser Themenabend war ein voller Erfolg.
Abendbericht: Ulrich Schäfer-Newiger