Sich jede auf ihre Weise als Gefangene einer fremden, fremdbestimmten, beengenden Gegenwart zu fühlen, das hatten die beiden Protagonistinnen der von Lea Hermann vorgetragenen Kurzgeschichte „Morrissey“ und dem Debütroman „Hirnweh“ (daraus hörten wir das Anfangskapitel und nach der Pause ein weiteres) gemeinsam. In der Kurzgeschichte war die äußere Gegenwart die Reichenbachbrücke in München, im Roman eine Reha-Klinik in Bad Tölz. Die sozusagen innere Gegenwart war die jeweils in der intensiven Selbstreflektion der jeweiligen Ich-Erzählerinnen begründete Vereinzelung oder jedenfalls Vereinzelungsgefühl.
Die Kurzgeschichte schilderte aus der Perspektiver der Ich-Erzählerin den untauglichen Versuch, ein digital gematchtes Date mit einem fremden Mann in der analogen Welt erfolgreich umzusetzen. Der von der Autorin recht klug komponierte innere Monolog mit den wenigen Dialogen der beiden, legte die Ursachen offen: Der Mann entspricht nicht dem Bild, welche die Erzählerin sich von ihm aufgrund der digitalen Kommunikation gemacht hat („sieht älter aus als auf dem Profilbild“). Sie ist enttäuscht und fühlt sich nun zu solch unerquicklichen Treffen gezwungen, um endlich eine Beziehung zu einem Mann aufzubauen. Gesellschaftlicher Zwang und die „Zeit tickt“ (aufgrund ihres Alters knapp über 30), legt sie sich als Gründe für ihr Verhalten zurecht. Der Mann freilich hat keine positiven Eigenschaften mehr, seine wenigen Sätze, die er ausspricht, bestätigen diesen Eindruck nur. Man geht auseinander ohne sich für ein neues Treffen zu verabreden. Sofort will die Erzählerin auf Tinder ein nächstes Match bewerkstelligen.
Diskutiert wurde vor allem die Frage, ob die von der Autorin gewählte Sprache, nämlich einfacher, schriftlicher Erzählstil, einen inneren Monolog denn glaubhaft und überzeugend darzustellen vermag.
Der Roman „Hirnweh“ erzählt von einer Patientin, die eine Encephalitis hatte und nun an epileptischen Anfällen leidet, gerade auf eine Nervenwasserentnahme beim Arzt in der Rehaklinik wartet, in der sie vier Wochen bleiben soll. Auch diese Geschichte wird aus der Ich-Perspektive der Erzählerin geschildert. Dabei werden typische Krankenhauszenen und Ärzteverhalten geschildert. Die Ich-Erzählerin zeichnet sich in dieser Erzählung durch eine erhebliche Gedächtnisleistung aus, weil sie die medizinischen Fachwörter und Bezeichnungen ohne zu stolpern wiedergibt und überhaupt sehr detailreich äußere Gegebenheiten bei ständiger innerer Reflexion über ihre Situation in der Klinik schildert. In ihr fühlt sie sich unwohl, gefangen, zunächst alleine.
Besonders im Kapitel, welches nach der Pause gelesen wurde und den abendlichen Ausflug von sechs Neurologiepatienten einschließlich der Ich-Erzählerin in eine nahe Pizzeria schildert, fiel diese Detailgenauigkeit auf. Da über den Ausgang der Geschichte nichts gesagt werden sollte (um das Ganze noch spannend zu halten), blieb auch die Frage, wo die Geschichte eigentlich hinführt, offen. Gleichwohl großer Beifall am Ende nach kurzer Diskussion über den Text.
Bericht: Ulrich Schäfer-Newiger
Fotos: Susanne Görtz