Was eine widerspenstige, widerständige Sprache sein kann, die sich nicht willfährig und gefällig – leicht den gewohnten Leseerwartungen hingibt, sondern die alleine den literarischen und poetologischen Intentionen der Autorin dient, das erfuhren die doch zahlreich erschienen Besucher der Lesung von Claudia Böning am 14. Oktober. Wobei die Intentionen, welche die Autorin mit ihrem Romanprojekt, aus dem sie einzelne Teile und Abschnitte vorlas, zunächst auch nicht einfach zu erkennen waren. Erst die Diskussion über die gehörten Textteile konnte sie offenbar entschleiern.
Erzählt wurden praktisch Alltagswahrnehmungen der Protagonistin mit Namen Modeste. Wahrnehmungen in einem städtischen Bus, einem Fahrstuhl, einem Wohnhaus, im Keller, in dem sie gestürzt ist, im Krankenhaus, im Flughafen. Diese Wahrnehmungen wurden allerdings gebrochen durch die Tatsache, dass es weder ein erzählendes „Ich“ noch ein „Sie“ gab, sondern ausschließlich ein „Du“. Diese merkwürdige und zunächst nicht genau bestimmbare Erzählperspektive ergaben Sätze wie Du nimmst die erste Stufe. Sie haben Dich in die Wohnung gebracht. Du hattest … usw. Dabei verwendet die Autorin kurze Sätze oder Satzfragmente wie z.B. einfach: Flucht nach draußen, wenn die Protagonistin vor einem ihr nicht geheueren Mann aus dem Bus stürzt. Manchmal reichen der Autorin auch einzelne Wörter. Dabei wechseln die Zeiten, wie die obigen Beispiele zeigen, auch das Futur I findet Verwendung: Ein Mann wird der erste sein, der zusteigt. Diese kurzen Sätze und Sprachfetzen, gelegentlich durch eine Art Schnitttechnik aneinandergereiht, wechselten ab mit genauen, detaillierten, mitunter feinfieseligen Beschreibungen des Wahrgenommenen, denen die Protagonistin oft Zeichencharakter beimaß und damit Bedeutungen, die das Wahrgenommene nicht hatte, etwa: Flugreisender-Rucksack-Terrorist.
In den regen Diskussionen über das Gehörte wurde zunächst gemutmaßt, das „Du“ bedeute eine innere Zwiesprache der Protagonistin und Erzählerin mit sich selbst. Ersetzt wurde dieser Erklärungsversuch bald durch die Erkenntnis, dass die erzählende Protagonistin sich selbst als Objekt wahrnimmt, sich von sich selbst distanziert, vielleicht distanzieren muss, um sich überhaupt über ihren Standpunkt in der Welt und in der Zeit klar werden zu können; „Ich“ kann sie daher nicht sagen. Dem entspricht die Sprache, in der erzählt wird: Wörter, Satzfragmente, dann wieder ausführliche Beschreibungen wechseln sich ohne Übergang ab.
Die Autorin hatte anfänglich berichtet, dass sie auch als Fotografin arbeitet, sie optisch höchst reizbar sei und dass ihre ersten Schreibversuche auf Papierfetzen stattfanden, die sie von ihrem Großvater erhalten habe. Daraus erkläre sich ihr Schreibstil, die Schnitte, die übergangslosen Wechsel von Ort und manchmal Zeit, ihre das Fragmentarische betonende literarische Sprache, die Erwartungen eines kontinuierlichen Fließens und Erzählens in klarer Zeitabfolge ständig unterlief.
Gedeutet wurde nach ausführlich-sachlicher Diskussion das ganze Projekt schließlich als gelungenes Experiment, die fragmentierte Wahrnehmung der unüberschaubaren Welt der Gegenwart und das sich daraus ergebende fragmentierte Bewusstsein des Subjekts sprachlich zu fassen und dem einen literarischen Rahmen zu geben. Man ist gespannt darauf, von diesem äußerst interessanten Versuch mehr und weiteres zu hören und zu erfahren.
Abendbericht von USN