Merkwürdige Charaktere und tiefe Gefühle – Bericht vom 7. Oktober 2022

Am Freitag den 7.10.2022 fand die erste Vorrunde für den 30. Haidhauser Werkstattpreis statt.

Fünf Autorinnen und Autoren präsentierten ihre Beiträge. Den Anfang machte Claudia Böning mit “Lucke”, einer aus der Perspektive eines Kindes geschilderten Geschichte. Ein schon vom Leben gezeichneter, abgerissener Mann kommt zur Pension der Großmutter der Protagonistin und fragt nach Arbeit, er wird ins Haus aufgenommen, man feiert auch zusammen Weihnachten bis er, von Fernweh getrieben, eines Tages weg ist, nachdem er 300 DM, die er bei der Bank abholen sollte, nicht mitgebracht hat und zuvor geäußert hatte, er werde sich in Paris vom Eiffelturm stürzen, damit sei er dann ein gemachter Mann.
Dann kommt auch eine Postkarte aus Paris und noch einmal später ist er selbst wieder da, zieht aber nach einer Nacht weiter.
Das Publikum lobte die atmosphärisch dichte Erzählung.

Danach trug Elena Shleferman Lyrik, nämlich ingesamt 5 Gedichte unter den Titeln “Silbermond“, “zerbrochene Liebe “, „Mond“, “solange wir lieben“ und  “Nachtigall” vor – stimmungs- und seelenvolle Gedichten über Liebe und Beziehungen, aber auch über Vergehen und Tod, teils märchenhaft verspielt.
Die Texte fanden Anklang beim Publikum, das aber kritisierte, aufgrund des starken Akzents der aus der Ukraine stammenden Autorin, dass man nur sehr wenig von den Texten tatsächlich verstanden habe.

Walter Grassl schilderte mit der Kurzgeschichte “Vorsicht an Gleis 24 ” die Begegnung eines Mannes, der sich auf dem Bahnhof auf eine Bank setzt, nachdem der Zug mit seiner langjährigen Freundin, mit der er eine stürmische und dramatische Beziehung über sieben Jahre hatte, gerade abgefahren ist, und dort die Bekanntschaft einer Frau macht, die sich als mantratechnische Lichttherapeutin vorstellt. Sie versucht ihn dann davon zu überzeugen, das seine Sitzposition ungünstig sei, da er in gerader Linie zu Gleis 24, und zwar zu rechten der beiden Schienen sitze und sich daher die Kraft des bösen Dämonen Ariman gegen ihn entfalten könne.
Das Publikum goutierte die gekonnt gestaltete Kurzgeschichte.

Günter Mitschke las unter dem Titel “Die Karawane zieht weiter” einen etwas längeren und drei kürzere Texte vor. Gegenstand des Ersteren war ein Landwirt mit finanziellen Schwierigkeiten, der in einer Talkshow für die Interessen der Landwirte sprechen soll, dazu aber aufgrund fehlender Erfahrung und mangelnden rhetorischen Fähigkeiten kaum in der Lage ist, weshalb dann der Talkmaster während der Sendung einen Telefonanruf platziert, dass sein Bauernhof jetzt abgebrannt sei. Es folgten zwei kurze Texte unter der Überschrift „Familienplanung“ und „Exklusion“, letztere angelehnt an die Schilder, die etwa kleinwüchsigen, übergewichtigen oder kranken Personen den Zutritt zu bestimmten Fahrgeschäften, etwa auf dem Oktoberfest verbieten, sowie zuletzt “Hosianna Mantra“ mit mantraartiger Wiederholung von Maske ist Maske der Vernunft.
Das Publikum kritisierte ein viel zu hohes Lesetempo, mangelnde sprachliche Gestaltung, wie Schachtelsätze und fehlende Glaubwürdigkeit der Geschichte mit dem Landwirt.

Zuletzt überzeugte Irina Malsam  mit “Blutkirschen  im Schnee”, vier, an die vier Jahreszeiten, angelehnten Auszügen aus einem Versroman, angesiedelt zwischen der kasachischen Steppe bei Karaganda und dem Schwarzwald, dort wo „der Regen zuhause ist“ und wo das Zuhause der Protagonistin und ihrer Familie eine Zeitlang ein Hotel, ein “knorriges Haus mit Mundgeruch”, gewesen ist. Andere Kapitel handelten von der Eisblume an Fensterscheiben, die gegen den Steppenwind gestopft sind oder vom Hereinbrechen des Frühlings, der Schaukel der Kindheit, sowie um Flughafentage auf dem Moskau-Sheremetyewo.
Das Publikum zeigte sich begeistert von der ausdrucksvollen und eindrücklichen Sprache, die beim Zuhörer Bilder wie in einem Film hervorrufe und die treffenden Charakterisierungen sowie dem klaren und verständlichen Vortrag.

Das Publikum wählte Irina Malsam zur Tagessiegerin und Kandidatin für das Finale des Haidhauser Werkstattpreises.

Abendbericht von Rainer Kegel

Fotos von Franc Beno