Glossen und Anekdoten – Lesung am 28.6.2019

Bei der Lesung am 28.6.2019 präsentierten zwei Autoren ihre Texte. Den Anfang machte Wolfram Hirche, in einer Doppelrolle als lesender Autor und Moderator mit einer kleinen Auswahl seiner seit 2012 in den Literaturseiten veröffentlichten Glossen, u.a. : „Schnee und Eros“ (über Schalamows gefrierende Spucke und das Lager Kolyma); „Promischau bei Settembrini“ zum Tag des Buchs, den 23.April, an dem sich die Romangestalten Bovary, Raskolnikow, Murau, Jordan usw. in Rom im Antico Caffè Greco treffen; „Nobel-Skat“ mit Grass, Handke, Walser im Schellingsalon; „Achtung Briefverkehr“ über die Verlagsmasche, Briefe mit Autoren aufzulegen und die Idee eines „Schweigebriefwechsels“ und „Staubsaugen bitte“ über das Thomas Mann Haus bei L. A. das für 15.000.000 € gekauft wurde, ohne dass ein Nutzungskonzept vorlag und viele andere Dichterhäuser, auch Monte Tabor von R. M. Remarque am Lago Maggiore, die nicht genützt werden, aber viel billiger und näher wären. Insgesamt scharfzüngige Texte, die meist ins Schwarze treffen. Diskutiert wurde vom Publikum auch darüber, was eine gute Glosse ausmacht.

Den zweiten Teil des Abends bestritt Hans-Karl Fischer, der aus der unveröffentlichten Reihe “Mythen und Anekdoten” zwei solcher Anekdoten vortrug. Zunächst ging es um die Nacht des Todes von Lorenzo de Medici, des Prächtigen und die Naturphänomene, die als Begleiterscheinungen seines Todes überliefert sind, wie ein Sturm, der Teile von der Kuppel des Florentiner Doms herabfallen oder Leuchterscheinungen am Himmel sowie die Tatsache, dass Pierleoni, Lorenzos Arzt, am nächsten Tag ertrunken in einem Brunnen aufgefunden wurde.

Der Text zeigte auf, dass man die Koinzidenz des Todes Lorenzos de Medici und der Naturphänomene anstatt als übernatürliche Zeichen auch dahin deuten kann, es sogar nahe liegt, anzunehmen, dass der für die Gegend von Florenz ungewöhnlich heftige Herbststurm dem bereits schwer gichtkranken Lorenzo sozusagen den Rest gegeben hat, während für den Tod des Arztes eine Reihe von Erklärungen denkbar sind. Der Text sorgte für zahlreiche Wortmeldungen aus dem Publikum. Diskutiert wurde vor allem, um welches Textgenre sich handele, aber auch zu den Verhältnissen in der florentinischen Renaissance.

Der zweite Text aus der Reihe “Mythen, und Anekdoten” handelte von einer anderen Art einer seltsamen Gleichzeitigkeit, nämlich der Tatsache, dass bei Gründung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste im Februar 1948 sechs Gründungsmitglieder dieser heute noch als “Vereinigung von namhaften Persönlichkeiten aus dem künstlerischen Leben” (so die Website der Akademie) bestehenden Institution, die für einen auch kulturellen Neuanfang stehen sollte, noch formal Mitglieder der auf Betreiben von Joseph Goebbels 1941 gegründeten “Europäischen Schriftstellervereinigung”, einem Instrument nationalsozialistischer Kulturpolitik, waren, nachdem diese Vereinigung erst im April 1948 aus dem Vereinsregister in Weimar gelöscht wurde.

Alles in allem ein in mehrfacher Hinsicht interessanter und gelungener Abend.

Bericht von Rainer Kegel