Münchner Schichten – Lesung am 27.2.2019

… eine Lesung aus den Theaterstücken des 4. Abends des Projekts von Leander Steinkopf (Autor) und Jan Geiger (Autor) am 27.2.2019 und eine Theateraufführung am 2.3.2019

Was kann man heute über München erzählen, was sollte erzählt werden?

Diese Frage stellte die Moderatorin und Projektmitglied Raphaela Bardutzky den Zuhörern im Anschluss an die Lesung.

Zunächst aber: Was wurde von Leander Steinkopf und Jan Geiger erzählt?

Das 1. Theaterstück (im Theaterzyklus der 4. Abend) thematisierte einen – zumindest möglicherweise – bevorstehenden Untergang eines Teils unserer Medienlandschaft (dramatischer Verlust der Leser) am Beispiel einer großen Münchner Tageszeitung. Akteure des Stücks: Der Chefredakteur, seine Sekretärin, der Verleger.

Jeder in verschiedenen Formen der Verzweiflung begriffen. Der Chefredakteur, in dem er sich in seiner Selbstdarstellung bewusst modern durch Nutzung sozialer Medien gab (das ganze Stück wurde am 2. März 2019 auch folgerichtig in einem Münchner Fitnessstudio aufgeführt, glänzende Location für das Thema!), andererseits aber auch wie in einer griechischen Tragödie im Hintergrund ein Text über Europa desselben Chefredakteurs rezitiert wurde, der den Zuhörer durch die kluge Textgestaltung in innere Zweifel stürzte: Waren das große Worte über Europa?, oder ist es doch alles hohl, weil es zu vielen gefallen will?, zu abstrakt, wo Konkretes gesagt werden müsste? Der Verleger, der in seiner eigenen Verzweiflung dem Chefredakteur, der das zu überhören scheint, den Rücktritt oder Eintritt in den Ruhestand nahelegt, angesichts des dramatischen Schwunds an Lesern. Und schließlich die wohl zentrale Figur, die Sekretärin des Chefredakteurs. Die am deutlichsten zeigt, weil sie als einzige wahres Mitgefühl ausstrahlt, woran es den beiden anderen fehlen könnte: An der aufrichtigen Anteilnahme, gerade ohne ein Schielen auf einen eigenen Erfolg oder Zahlen oder die Resonanz. Alle 3 vereint im münchentypischen Leistungs- Bemühen und dem zugleich ungenügenden Bemühen darum, die großen Sinnfragen zu stellen.

Auch diejenige, die ich mir etwas schuldbewusst stellte: bin nicht auch ich selbst schuld – wenn ich nur gelegentlich Zeitung lese?

Unter der Oberfläche dieser Ausrichtung an Leistung und Fitness, meines Erachtens etwas zu karikaturhaft dargestellt in der szenischen Umsetzung, in der die Figuren teilweise auch Masken trugen, schimmerte also das ganz große München-Thema auf: Was machen wir eigentlich in dieser Stadt, wenn wir so wenig Mitgefühl haben? Macht irgendetwas von dem, was wir mit dieser Hektik, dieser Anstrengung und dieser steten Orientierung am wirtschaftlichen Erfolg machen, einen Sinn, und gegebenenfalls welchen? Ich war durch das Stück sehr beeindruckt. Ohne die szenische Lesung im MLb hätte ich allerdings die Theaterdarstellung wegen der Umstellung ganzer Textblöcke nicht so gut verstanden.

Im Anschluss las Jan Geiger im MLb; bei der szenischen Darstellung im Fitnessstudio gingen die Stücke praktisch ineinander über. Ein einziger innerer Monolog. Ein junger Mann, der sich später als “Dragqueen“ entwickelte, begann in der Theateraufführung noch während der Schlussszenen des „Selbstzerstörungsprozesses der Zeitung“, d.h. des vorausgegangenen Stücks, bereits mit einem langsamen Gang im Fitnessstudio, im Yogaraum, in dem er einzelne Kerzen anzündete und feierlich schwieg.

Im Stück von Jan Geiger war dieser eine Mann, der mit seinem Partner zusammen lebte, von seinem Partner wegen einem anderen auf die Straße gesetzt worden, mitsamt den Möbeln. Schon zuvor hatte er den seelischen Absturz kompensiert durch „Körperarbeit“ im Fitnessstudio. Das Theaterstück setzte sich, exzellent umgesetzt, also folgerichtig im Keller des Fitnessstudios fort, wo die Zuschauer an die Umkleiden der Metallschränke gelehnt saßen und im Halbdunkeln die Bewegungen des verzweifelten, gleichzeitig äußerlich völlig ruhigen Mannes (sehr gut gespielt im Theaterstück) verfolgten, den sie nur gelegentlich sehen konnten – wunderbar gemacht – während die Stimme seines inneren Monologs vom Band kam.

Ist es wichtig, Gegenstände zu besitzen? Ist es wichtig, zu wohnen? Könnten wir uns seelisch besser entwickeln, wenn wir in kleinen, leeren Gummizellen lebten und uns zumindest akustisch dann besser ausleben könnten? Durfte der eine Partner den anderen auf die Straße setzen? Das Gerechtigkeitsbewusstsein der Figur blieb schwach, siehe Leitthema: Wie viel Mitgefühl oder doch zumindest Aufmerksamkeit brauche ich, um in dieser Stadt überleben zu können?

Und immer wieder schien auch ein anderes Motiv auf: Ein Mönch, der die Erleuchtung im Nirvana sucht und nach einem japanischen Vorbild durch Trinken eines giftigen Tees sich immer mehr einem entkörperlichten Zustand nähert, bis er schließlich das Glöckchen nicht mehr läuten kann – tot. Sollten wir das machen in unserem München? Was bewegt die Leute, im Eisbach zu surfen?

In der szenischen Umsetzung dann im Theater endete das Stück mit einer Verwandlung, wonach der im Stich Gelassene sich durch Schminken und Wechseln der Kleidung optisch in eine Frau umwandelt und zu tanzen beginnt. Dies war interessant zum Sehen, aber für mich wäre es für den eigentlichen Gehalt des Stückes, so, wie ich es verstanden habe, eine nicht notwendige Entwicklung gewesen. Denn auch hier lautete die Frage, die ich mir aufgrund des Stücks stellte: was muss in dieser Stadt geschehen, damit Münchner diese Sinnfrage beantworten können? Bei Befragungen nicht mehr sagen, sie leben so gern in München, weil man so schnell woandershin kommt? In die Berge? An die Seen?

Die anfangs gestellte Frage von Frau Bardutzky konnte letztlich durch die Zuschauer nur ungenügend beantwortet werden. Wir waren zu nachdenklich geworden.

Ich kann es so beantworten: noch mehr von solche außergewöhnlich guten Theaterstücken! Und wenn es nach mir ginge, sollte zumindest der Theaterabend, den ich selbst genießen konnte, auf einer großen Bühne oder in anderen Fitnessstudios über einige Wochen aufgeführt werden.