Bei diesem erfreulich ungewöhnlichen Abend fanden sich so viele Besucher ein wie selten: ca. 27 an der Zahl, davon 7 aus dem Literaturbüro-Umkreis, die übrigen waren, überwiegend, aber nicht nur, junge Besucher aus dem philosophisch-künstlerischen Umkreis der Autorin Henriette Hufgard und ihrer Moderatorin Dr. Karin Hutflöz.
Der Vortrag der Autorin, studierte Philosophin und Künstlerin, erklärtermaßen eine Anhängerin des feministisch geprägten Postkolonialismus, hatte nicht nur die Geschichte des europäischen Kolonialismus und Imperialismus seit Beginn der Neuzeit (die sie auf das Jahr 1539 datierte, weil in diesem Jahr erstmals der Begriff ‚Rationalismus‘ aufgetaucht sei) zum Gegenstand, sondern vor allem eine neue, selbstkritische, die andere, fremde Kultur erkennende und ernst nehmende Wahrnehmung dieser Geschichte. Eine solche neue Perspektive gedachte sie zu erreichen mittels des sogenannten, aus der Internetnutzung bekannten ‚Split Screen‘, des geteilten Bildschirms, der Idee einer geteilten, gespaltenen aber auch doppelten und erweiterten Wahrnehmung, parallel zum Text des Vortrages. Dazu warf sie Beispiele an die Wand, Stillleben aus dem Barock, die exotische, aus den Kolonien stammende Früchte und Tiere zeigten, oder Bilder, die Marie Antoinette einmal in lässigem Baumwollkleid (Baumwolle, von Sklaven gepflückt) einmal im üblichen Seidenkleid zeigte.
Lange Zeit war der zusätzliche Erkenntnisgewinn dieser Methode der Wahrnehmung praktisch nicht klar. Bis die Autorin ein aus dem 17. oder 18. Jhd. stammendes Bild eines wie zu Anatomiezwecken aufgeschnittenen Frauenrückens einer immer noch lächelnden Frau und die schwarz-weiß-Fotografie eines schwarzen Sklaven, dessen Rücken mit wülstigen, krakeleeartigen Narben übersät war, die ganz offensichtlich von Auspeitschungen herrührten, direkt nebeneinander zeigte. Da sprang nach kurzer Zeit einer der zum Umkreis des Literaturbüros gehörenden, alten weißen Männer unter den Besuchern auf und rief empört: „Die Bilder sind Folter! Die will ich nicht sehn. Macht die weg!“ Und wenig später, im Hinauseilen: „Dafür werdet ihr bezahlen. Die Rechnung bekommt ihr noch. Nächstes Jahr, wenn kein Gas mehr fließt!“ Damit hatte der Mann den jedenfalls möglichen, performativen, wahrnehmungserweiternden Charakter des Nebeneinderstellens solcher Abbildungen und des gezwungenen Hinsehens unfreiwillig nachgewiesen (was allen aber erst viel später so richtig klar wurde): nicht gleichgültige, sondern empörende, abwehrende, zurückweisende Reaktion eines, der sich von solchen eigentlich doch fernen Abbildungen plötzlich unmittelbar selbst betroffen fühlt. Das ist ja die erste Voraussetzung eines möglichen selbstkritischen, zweifelnden, fragenden Umgangs mit diesem Gegenstand.
Im Übrigen arbeitete sich die Autorin am Vernunftbegriff (ohne ihn freilich zu definieren), der Rationalität (auch die wurde nicht eigentlich klar definiert) und vor allem Descartes und dessen Cogito ergo sum, und seinem abschätzig-distanzierten Menschenbild („Wenn ich aus dem Fenster schaue, kann ich erst einmal nicht erkennen, ob ich auf der Straße Menschen oder Maschinen sehe) kritisch ab. [Erstaunlicherweise, das ist dem Berichterstatter aber auch erst nachher eingefallen und hat’s nicht in die Diskussion geworfen, ohne seine zu Descartes Lebzeiten schärfste Kritikerin, die englische Philosophin(!) Margaret Cavendish (1623- 1673), auch nur zu erwähnen.] Hervor hob die Autorin vor allem die uns heute angeblich nicht mehr bewusste Bedeutung des massenhaften Besitzsklaventums für den Erfolg der frühkapitalistischen Produktion z.B. von Zuckerrohr, Baumwolle und Tee, also für unseren heutigen, europäischen Wohlstand.
Das führte in der sich dem Vortrag anschließenden ausführlichen Diskussion u.a. zu der Frage (eines ebenfalls zum Umkreis des Literbürobüro gehörenden Besuchers), ob er sich denn jetzt schämen müsse, Tee zu trinken. Die saloppe Antwort: „Damit können Sie schon einmal anfangen“, war freilich von der besonderen Art, wie sie die Autorin, so hatte der Berichterstatter sie verstanden, doch eigentlich an der unreflektierten, unkritischen Haltung zum Kolonialismus kritisiert wissen wollte. Sie trug nicht zum Verständnis ihres Anliegens bei.
Ansonsten wurde in der langen, sachlich geführten Diskussion, die hier aus Platzgründen im Einzelnen nicht wiedergegeben werden kann, über den Begriff des Logos, der Vernunftanwendung, der Amoralität der Rationalität und der Frage, wie die Rationalität der modernen Sprache, in der das Problem ja dargestellt wurde und dargestellt werden muss, ebenfalls kritisch aufgebrochen werden könnte, etwa durch poetisches Sprechen.
Am Ende gab es langen Beifall und danach auf dem Bürgersteig vor dem MLB fröhliche Diskussionsfortsetzung mit Wein und Bier und der Beteuerung, solche hochinteressanten Veranstaltungen zukünftig öfters durchzuführen.
Bericht von USN