Von den Untiefen auktorialer Erzählweise – Abendbericht vom 10. März 2023

Der Autor hatte das vollständige, umfangreich-dicke Manuskript seines – unveröffentlichten – Romans „Zauberzeit“ mitgebracht und auf den Tisch gelegt. Er wolle damit belegen, erklärte er im Laufe des Abends, dass er wirklich den Roman geschrieben habe und das nicht bloß behaupte. Allerdings machte er auch mehrmals von dieser Aussage insoweit wieder einen Rückzieher, als er seinen Text wiederholt ‚Romanverdacht‘ nannte – also: Vielleicht doch kein Roman? In seinen anfänglichen biographischen Angaben wies der Autor darauf hin, dass er u.a. vom Journalismus und der Psychologie komme, ein Umstand, der im Laufe des Abends noch eine Rolle spielen würde.

Die Lesung begann mit den beiden ersten, kurzen Kapiteln des Romans, überschrieben mit ‚Turmzimmer‘ und ‚Raumschiff‘. Das Turmzimmerkapitel wurde hauptsächlich von einer gruppentherapeutischen Sitzung geprägt, in der Rollenspiele zum Umgang bei Auseinandersetzungen zwischen Paaren geübt wurden. Alle Personen wurden bei ihrem jeweiligen Erscheinen im Text mit vollem Vor- und Zunamen genannt, und über sie Einzelheiten berichtet (etwa: „Angela Grünwald war bis vor kurzen Einzeltherapeutin“. „Irene Meisner war ihre Co-Therapeutin“). Der Autor blickte von außen auf das Geschehen, wusste stets mehr über die Patienten und Therapeuten als diese selbst. Worauf das Ganze hinauslief, wurde und sollte wohl im Sinne eines Spannungsaufbaues nicht deutlich werden. Das „Raumschiff“ wiederum war ein Büro, in welchem ein „Oliver T*“  (Name geändert, sollte das heißen) mit einem nur mit „Doktor“ bezeichneten Gegenüber (Mitarbeiter eines obskuren „Dienstes“) darüber sprach, dass er, Oliver T*, vor sieben Jahren auftragsgemäß einen Präsidenten ermordet hatte, völlig unbehelligt geblieben war, jetzt als Sportmanager arbeitete und sich nun aber offenbaren wollte. „Anders glaubte er, sein Leben nicht mehr ertragen zu können“, wie der Autor zu berichten wusste. Das Gespräch endet ohne Offenbarungserlaubnis.

Moniert wurde in der anschließenden Diskussion vor allem die berichtende, floskelhafte, Abstand wahrende und so den Personen nicht wirklich nahekommende und daher nicht überzeugend darstellende Erzählperspektive des Autors. Wie zu Beginn angekündigt, verlas der Autor dann ein von einem Dritten stammendes Exposé über seinen Roman. Wegen der vielen positiven Behauptungen über das Werk (u.a. ginge es um einen faustischen Pakt, sei der Autor ein Kenner des psychischen Apparats, behandele Zeitkrankheit und Therapie usw.) wurde dieser Text als bloß werbende Buchbesprechung kritisiert.

Die beiden nächsten vorgelesenen Kapitel (3.‚Lesestunde‘, spielte wieder in einer ‚Kurklinik‘, in welcher der Protagonist, ein ‚Klaus Degen‘, angeblich den „Zauberberg“ von Thomas Mann erstmals ganz liest und sich daran erinnert, wie er einst die ‚Buddenbrooks‘ als Junge gelesen hatte [„Es war die Zeit, in der seine Liebe zur Literatur erwachte“], und 4. ‚Dating‘, in welchem sich jener Oliver T*  und die bereits erwähnte Irene Meisner erstmals in einem Café zu einem Dating treffen, hatten nach Meinung des Publikums die gleichen Schwächen wie die zuerst gelesenen: Behauptende Sätze, nur berichtend, was mutmaßlich auf die journalistische Vergangenheit des Autors zurückgeführt wurde. Die jeweils präzise Namensnennung der erscheinenden Personen z.B. hörten sich an, wie aus einer amtlichen Patientenakte zitiert, brächten aber deswegen gerade keine Nähe zu den betreffenden Personen. Die Darstellung des Gespräches und der Gedanken des Paares am Cafétisch dagegen wurden positiv und als gelungen bewertet.

Nach der Pause las der Autor das längere 18. Kapitel vor, in welchem ‚Oliver T*‘ erneut mit dem Doktor sprach, der ihn vor der Gefahr der Enttarnung als Präsidentenmörder durch den erwähnten ‚Klaus Degen‘ warnte und Oliver T* von seinen beruflichen Schwierigkeiten berichtete, auch hervorgerufen durch den Selbstmord eines von ihm betreuten Torwarts. Um aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen, wurde Oliver T* überredet, ein weiteres, allerdings nur scheinbares Attentat zu begehen, das sich dann aber als ein echtes entpuppte, weil die Auftraggeber das Gerät zur Ausführung des Attentats ohne Wissen des Attentäters präpariert hatten. Wieder war Oliver T* in eine Falle getappt und unfreiwillig zu einem Attentäter geworden. Trotz dieses etwas sehr konstruierten Plots kam in diesem 18. Kapitel erstmals eine Art Spannung auf, vielleicht, weil hier irgendwelche Dienste am Werk waren, die eben geheim blieben, und auch der Autor nicht mehr verriet.

Wie immer in Fällen, in denen Autoren aus Romanen nur Teile vorlesen können (was ja nicht anders geht in eineinhalb Stunden), blieb der Gesamtzusammenhang undeutlich und konnte nicht geklärt werden, ob die Sprache und der Erzählstil diesem Zusammenhang dienlich waren. Auf die Frage aus dem Publikum, was der Autor denn nun in einem Satz als „Pitch“ seines Buches erklären würde, nannte der Autor Begriffe wie ‚Zauberzeit‘, ‚Zeit in der wir leben‘, ‚glückliche Zeit‘, Heilung nach Krankheit‘. Damit blieben die Zuhörer etwas ratlos zurück.

So brachte dieser Abend die Erkenntnis, dass der auktoriale Erzählstil seine Tücken hat, weil er allzu leicht dazu verführt, auf einer Art Behauptungs- und Berichtsebene zu verweilen, ohne den fiktiven Personen und dem, um was es dem Autor in seiner Geschichte gehen mag, wirklich näher zu kommen.

Bericht von USN