Wetterleuchten – Das Jahrzehnt der verspielten Freiheit – Bericht vom 28. Oktober 2022

Ein voll besetztes MLB, ein belesener, souveräner Autor, ein kurzweiliger, mitreißender Abend … in diesen knappen Worten ließe sich der Abend mit Autor Norbert Wollschläger (Gewinner des 10. Bad Godesberger Literaturwettbewerbs) zusammenfassen. Tatsächlich gelang es dem studierten Soziologen, Psychologen und Publizisten Wollschläger, sein Publikum mit dem noch unveröffentlichten und unvollendeten Roman „Wetterleuchten – Das Jahrzehnt der verspielten Freiheit“ nicht nur zu unterhalten, sondern – so nicht wenige Stimmen aus dem Publikum – zu begeistern.

Präzise, in knapp erzählten Szenenbeschreibungen ließ der Autor die Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Reise Erich Kästners ins Tessin aufleben. (Tatsächlich wird sich der Roman noch bis zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten erstrecken, aber diese letzten Kapitel sind noch nicht geschrieben.)  In „Kaiserwetter“ verknüpfte der Autor die Großmachtfantasie des deutschen Kaisers Wilhelm II. mit dem Attentat in Sarajewo auf Österreich-Ungarns Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Gemahlin. In „Der verstummte Mahner“ stellte er Kurt Tucholskys schriftstellerisches Verstummen mit dem Aufruf an die deutschen Juden „Eilet freiwillig zu den Fahnen!“ in Verbindung und ließ die Zuhörer teilhaben an der „traumhaft“ prickelnd sinnlichen Begegnung mit dessen späteren Ehefrau Else Weil. Es folgte nach der Pause „Der (erfolgreiche) Anschlag“ auf Adolf Hitler in der Thierschstraße, ein Schneeballgeschoss, das den aufstrebenden Hitler im Nacken traf und den jungen Schüler Golo Mann ins Internat brachte. Schließlich ließ Norbert Wollschläger in „Auf dem Weg ins Tessin“ den gerade berühmt gewordenen Erich Kästner im Bayerischen Hof die Stille des Luxus erleben sowie eine überraschende, leidenschaftliche Zufallsbekanntschaft, die Kästner aber ebenso irritiert wie der Auflauf beim Vortrag des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, der von mit weißen Hemden verkleideten Nazis gestört wird.

In allen vorgetragenen Episoden verknüpfte der Autor gekonnt geschichtlich Bekanntes und geschichtlich Unbekanntes mit den Figurenzeichnungen des Romans. Das Publikum honorierte es mit Applaus, Nachfragen, Interesse und nicht wenig Lob. Besonders gefiel die Erzählperspektive. Der durchgehend im Präsens geschriebene Roman vermittle den Eindruck, ganz nah am Geschehen und den Protagonisten zu sein, so einige der Gäste. Auch die geschichtlichen Darstellungen, das Vermischen von Fakten und Fiktion gelang überzeugend. Bei aller Zustimmung (auch der leidenschaftliche Vortrag des Autors wurde betont) wäre das MLB nicht das MLB, hätte es nicht auch kritische Stimmen gegeben. So wurde das Frauenbild hinterfragt, das sich in den Erlebnissen Kurt Tucholsky/Else Weil und der Zufallsbekanntschaft Konstanze/Erich Kästner zeigte. Eine Parallelität der Ereignisse (Kennenlernen – starke, die Führung übernehmende Frau – leidenschaftliche Nacht) war nicht zu übersehen. Vermisst wurde, dass den beiden Frauen wenig Raum für ihr Profil/ihr Wesen eingeräumt wurde. Und ob die Forschheit des weiblichen Geschlechts in den Jahren um 1914/1922 so ausgeprägt war wie beschrieben, oder nicht zu viel Alkohol im Spiel sei, wie ein Gast anmerkte, überzeugte nicht jeden.

In der Summe trübten die kritischen Anmerkungen jedoch keineswegs die Qualität des Vortrags. Die fast zweieinhalb Stunden machten Lust auf mehr – und Vorfreude auf die Fertigstellung des Romans. Im Anschluss stand der Autor noch vielen Nachfragen offen.

Nachbericht von FW