Das Publikum liebt Beziehungsgeschichten, das hat im MLb lange Tradition, und so konnte es nicht überraschen, dass Hartwig Nissen mit seiner ruhig und überzeugend vorgetragenen Story „Notlösung“ überlegen zum Abendsieger gewählt wurde. Ein gescheiterter (und gescheiter) Werbetexter verliert seinen Job, trotz erfolgreichen Brainstormings und landet in einem Supermarkt als „Auffüller“ mit der Chance zum Oberauffüller aufzusteigen – Ehefrau Britta verzeiht ihm kleine Tricksereien und die zentrale Frage bleibt: Darf man eine winzige Heftklammer-Zange klauen und dies der geliebten Frau verschweigen?
Zunächst aber trat Dietmar Wielgosch auf das Podium und rezitierte par coeur, wie es beim französischen Nachbarn heißt, also auswendig , eine Handvoll seiner hübschen Alltagsgedichte., in denen von der Liebe über die Wanderung der Nahrung bis zum plattgefahrenen armen Bieber nichts ausgelassen wurde – konsequenter Paar-Reim, gelungener Rhythmus und keine Angst vor „Tannen“ auf „entmannen“ .
Sodann servierte der sympathisch-jugendliche Autor Marco Bötsch dem Publikum etwas schwer zu entschlüsselnde Kost mit dem Langgedicht „Heiligenscheibe“ , in das er viele durchaus beeindruckende Bilder aus seinem Leben packte und in dem er gewaltige Sprünge wagte -von einer Frau namens Luzi bis zur bekanntlich extrem langlebigen Seegurke; – da das Gedicht leider nicht per Beamer an die Wand projiziert werden konnte, war das Publikum von Höhen und Tiefen des anspruchsvollen Textes leider nicht so überzeugt , wie er es verdient hätte.
Dafür bezauberte die gebürtige Chinesin Mei Shi mit ihrem „Fernsehabend“ aus der Wüste Gobi sofort alle Zuhörer. Exotische Armut, düstere Kindheitserfahrung und Konfrontation mit dem reichen Westen ergaben eine Mischung, der sich das Publikum kaum entziehen konnte. Trotz kleiner sprachlicher Wackler war Mei Shi als „Siegerin der Herzen“ dieses Abends zu erkennen.
Der Autor Günter Mitschke konnte mit seiner Mischung aus durchaus anspruchsvoller Kurzprosa und humorvollen Gedichten die alte Regel („Entscheide dich für e i n e literarische Form“) nicht widerlegen. Sein Prosatext „Letzte Dinge“, in dem Nahtod-Erfahrung und Lebensbilanz zur Sprache kommen, hätte sicher mehr Aufmerksamkeit verdient, musste aber der humoristischen Lyrik weichen, sodass sich das wählerisch-wählende Publikum nur schwer entscheiden konnte.
Zum Schluss servierte Sebastian Schmidt noch einen vielversprechenden Auszug aus seinem Roman mit dem Arbeitstitel „Am Golf liegen“. Ein Kaufhaus-Mitarbeiter versucht den Alltag und das Zusammenleben mit seiner Frau durch kleine, mehr oder weniger exotische Geschenke zu versüßen, wobei der Leser bzw. Zuhörer immer wieder durch einen „Charly, der kein Mensch ist“ bewusst verstört wird. Ob es sich hier um eine derzeit modische Künstliche Intelligenz handelt oder einen kapitalistischen Ausbeuter, bleibt in diesem Roman-Ausschnitt unklar. Mit Blicken auf die Körperlichkeit, dem „vollen Haar“ oder der „schlechten Haut“ und einem Zitat aus einem Trakl-Text deutet der Autor das Potenzial seines wachsenden Romans an – man darf gespannt sein!
Bericht und Foto von wolframhirche