Zwei Leben in einem und ein Dorf auf der Kurischen Nehrung – Abendbericht vom 14. Juli 2023

Mit gleich zwei Romanen stellte sich die Autorin Ruth G. Gross an diesem hochsommerlichen Freitagabend den Zuhörerinnen und Zuhörern im Literaturbüro.  Der eine – „In meines Vaters Haus“ – erschien im Frühjahr 2023 im Scholastika-Verlag, der andere – „Die blaue Brücke“ – ist gerade im Entstehen.

Zwei Romane an einem Abend verständlich an Frau und Mann zu bringen, ist eine Herausforderung. Die Autorin greift daher aus, umreißt Zusammenhänge, stellt Verständnisebenen her. Das ist hilfreich – und bei der komplexen Thematik auch wichtig.

„In meines Vaters Haus“ erzählt die Geschichte der Neurobiologin Charlotte, die, vom Freitod ihres Vaters überrascht, den aufkommenden Zweifeln und Fragen mit Nachforschungen begegnet. Zwei vollkommen getrennte Leben offenbaren sich in der Person des Vaters – das eine vor seiner Flucht in den Westen nach dem Zweiten Weltkrieg, das andere nach seiner Flucht, in das auch Charlotte hineingeboren wurde. Die Zusammenhänge der Flucht wirft beim Publikum Fragen auf – War es kurz nach dem Krieg nicht eher einfach, von Ost nach West zu gelangen? Warum musste der Vater fliehen, wo die Grenzen noch nicht geschlossen waren?

Die Kürze der Zeit lässt es nicht zu, dass die Fragen mit Auszügen aus dem Roman literarisch beantwortet werden. Denn tatsächlich flieht der Romanvater im Krieg durch die „Festung Harz“, wie es damals hieß. Eine Katastrophe im Werk, in die der Vater verwickelt war, lässt ihm keine andere Wahl. Aber dafür ist zum Vorlesen nicht genug Zeit. Also erzählt Ruth G. Gross, erklärt, steht Rede und Antwort. Und das macht sie ruhig, fundiert, sicher. Fast zu kurz kommt dabei, dass der Roman klar und anschaulich geschrieben und strukturiert ist. Die Sprache ist prägnant, die Protagonisten werden mit Ruhe, dabei durchaus auch spannend entwickelt.

Was „In meines Vaters Haus“ gefällt, der ruhige, umfassende Erzählstil, ruft bei „Die blaue Brücke“ verhaltene Zustimmung hervor. Das Romanprojekt erzählt die Geschichte der Künstlerkolonie Nidden auf der Kurischen Nehrung, in dessen Hochzeit auch der frisch gekürte Nobelpreisträger Thomas Mann ein Haus auf einer freien Düne erbauen lässt.
Erzählt wird die Geschichte aus Sicht der Wirtstochter Hedwig „Heta“ und des expressionistischen Malers Ernst Mollenhauer. Der Roman bietet viel Kolorit – von der Schönheit der Landschaft, dem Leben der dort arbeitenden und urlaubenden Maler, deren Gesprächen, Streitigkeiten, Visionen, dem Zeitgeschehen.
Auch in „Die blaue Brücke“ ist die Kürze der Lesezeit ein Hindernis, um die verschiedenen Erzählstränge und Zusammenhänge aufzuzeigen. Anders als „In meines Vaters Haus“ bleibt aber auch eine gewisse Distanz zu den Protagonisten bestehen. Ruth G. Gross greift die Anregung gerne auf und verweist darauf, dass die Phase des Verdichtens, Kürzens, Ergänzens erst im nächsten Arbeitsschritt komme. Überhaupt ist die Autorin in ihrem Auftreten sicher und gerade in Bezug auf Hintergründe und historische Zusammenhänge sattelfest. Auf Rückfragen aus dem Publikum (u.a. zu Thomas Mann) gibt sie fundiert Antwort und verweist auf Berichte und Quellen. Die Weiterentwicklung des Romans und seiner Protagonisten, so die Autorin, wird ein interessantes „Probehandeln“ sein. Gemeint ist, die Entwicklung der Figuren spielerisch voranzutreiben, sie in ihrem Entstehen „auszuprobieren“. Man darf gespannt sein. Bleibt der Autorin und dem Publikum zu wünschen, dass bei der nächsten Präsentation weniger hochsommerliche Temperaturen herrschen und dann mehr Interessierte den Weg ins MLB finden.

Bericht und Foto von Franz Westner