Fallstricke der Erinnerungsliteratur – Bericht vom 14.5.2021

Hans-Karl Fischer las wie angekündigt aus seinem Romanprojekt „Gewalt“. Es handelte sich dabei um einen autobiographischen Internats-Schulroman, der in den Jahren 1972 bis 1974 in einem katholischen Internat in der Nähe von Passau spielt. Der Text war dabei in recht streng abgegrenzte, kurz Episoden unterteilt. Nach Auskunft des Autors im Laufe der Diskussion wurden dabei die Namen (z.B. Ferdl, Schieferl, Gustl) und das Aussehen der Personen von ihm geändert, so dass eine Identifizierung nur schwer möglich sein sollte. <!–more–>Die geschilderten Geschehnisse indessen wurden nicht geändert und entsprachen dem Erinnerten. Die geschilderten Geschehnisse drehten sich im Wesentlichen um den vom Autor so genannten Erziehungswechsel im Gefolge der 68iger Ereignisse wegen der sich unter den Schülern eine „progressive“ und eine „konservative“ Gruppierung gebildet hatte.

In der z.T. präzisen Diskussion um einzelne literarische Aspekte des Textes vermied es der Autor geschickt, die naheliegende und mehrmals gestellte Frage, ob diese Bewertung („progressiv“ versus „konservativ“) eine ex-post Bewertung des Autors, oder eine der damals Beteiligten des früheren Geschehens war. Die Frage betrifft ja ein Grundproblem jeder Erinnerungsliteratur. Diese Frage unbeantwortet zu lassen, hatte natürlich seinen besonderen Reiz. Denn dadurch wurde der Text von den Zuhörern daraufhin abgeklopft, ob er denn etwas verriet über die tatsächliche zeitliche Erzählperspektive. Einmal, als der damalige Mitschüler Ottfried Fischer genannt und als „nachmaliger Kabarettist“ bezeichnet wurde, schien klar, dass aus heutiger, nicht aus damaliger Sicht erzählt wurde. Allerdings war das auch der einzige Hinweis. Ansonsten gaben die gelesenen Texte darauf direkt keinen klaren Hinweis. Einige wollten aber in der ‚Klangfarbe‘ und der ‚Bedachtsamkeit‘ des Textes die Gegenwart der Erzählperspektive erkennen.

Hervorgehoben wurde in der Diskussion die lakonisch-kurz angebundene Sprache des Textes, seine zum Teil trockene Schilderung einzelner Ereignisse, die sich dadurch auszeichnete, dass überflüssig erscheinendes Beiwerk weggelassen wurde. Daraus ergebe sich ein Spannungsbogen wodurch die Geschichte vorangetrieben werde. Erkannt wurden auch ironische Elemente des Erzählens, wodurch ein typischer, unverwechselbarer Hans-Karl-Fischer Stil entstand. Die genannten Stilelemente sprachen ebenfalls für eine distanzierte Erzählperspektive aus der Gegenwart.

Breiteren Diskussionsraum nahm auch das Verhältnis von direkter und indirekter Rede ein. Kritisiert wurde, dass in einigen Fällen gerade wichtige, den Fortgang und das Verständnis der Geschichte tragende Geschehnisse in der indirekten anstatt der diese Schlüsselstellen hervorhebenden und betonenden direkten Rede geschildert wurden. Damit wurde ein weiteres typischen Problem der Erinnerungsliteratur angesprochen.

Weitere Diskussionspunkte wie doppelte, also nach Meinung des Zuhörers überflüssige, Erklärungen für einen Sachverhalt oder eine Personencharakterisierung zeigten, dass der Text für eine Werkstattdiskussion, wie sie idealerweise im Münchner Literaturbüro ja stattfinden soll, ideal geeignet war.

Abendbericht von Ulrich Schäfer-Newiger