Ida Häusser las, wie angekündigt, Texte über ihre Kindheit in Kasachstan und, interessanter, über ihre Versuche als längst Erwachsene, sich dieser Vergangenheit wieder zu nähern, auch ganz real durch eine Reise.
Die Autorin klärte zum Hintergrund ihres Schreibens auf über die Familiengeschichte, die ein Gefühl einer Art Heimatlosigkeit zur Folge hat: Die Vorfahren aus dem Badischen und dem Elsass, waren Anfang des 19. Jahrhunderts nach Russland (Odessa) auswanderten, von dort während des 2. Weltkrieges deportiert worden nach Kasachstan und schließlich waren von dort in den 80iger Jahren des vorigen Jahrhunderts ihre Eltern mit Kindern durch eine Lücke im Eisernen Vorhang wieder nach Deutschland gekommen.
Die kasachischen Erinnerungen waren aus der Perspektive des Kindes erzählt. Diskutiert wurde die immer wiederkehrenden Probleme der Erinnerungsliteratur: Kann man als erwachsener Autor überhaupt die Perspektive eines Kindes einnehmen, wie verlässlich ist diese Erinnerung überhaupt? Spricht die Genauigkeit der Beschreibung einer lang zurückliegenden Situation (z.B. das ausführliche Aussortieren schlechter Reiskörner von guten) doch eher für ein fiktionales Übergewicht? Die Autorin überlieferte in diesem Zusammenhang ein russisches Sprichwort: „Es ist lange her und gar nicht mehr wahr.“ Überwiegend wurde eine solcherart von der Autorin dargestellte Szene aus der Kindheit als überzeugend, in sich geschlossen und gut charakterisiert bewertet. Eine direkte Verbindung zwischen dem Jetzt, dem Schreiben als Erwachsene und der Erinnerung an die Kindheit wagte die Autorin in der Geschichte „Der Boden unter meinen Füßen“. Ausgehend von einem Schreibkurs von Doris Dörrie (Motto: Einfach aufschreiben, aufschreiben, nicht denken!) erzählte sie eine kleine Geschichte, in der ihr kleinerer Bruder in den Teer einer frisch asphaltierten Straße fiel, weil er ihr nachlief. Spätere Rückfragen bei diesem und den Eltern ergaben: Sie konnten sich nicht oder nur noch ganz dunkel erinnern.
Schließ las die Autorin noch von den Vorbereitungen einer realen Reise nach Odessa, einem Ort also, den sie nicht kannte (sie wurde in Kasachstan geboren) und ihre Eltern nur als kleine Kinder. Es ging ihr um eine Art Heimweh nach einem ihr unbekannten Ort, der die Heimat ihrer Vorfahren gewesen war und nannte dieses Gefühl ‚Phantom-Heimweh‘. Dieses einzufangen und sich ihm zu stellen, ist, so konnte die Autorin verstanden werden, der Impetus ihres Schreibens. Sie wolle sich diesem Ort aus der Vergangenheit deswegen aus so langsam wie möglich nähern: per Fahrrad. Davon würden zukünftige Texte handeln und die Interessierten dürfen gespannt sein.
Die Lesung dauerte mit intensiven Diskussionen etwa zwei Stunden und keine / keiner der anfänglichen Zoom-Anwesenden war abgesprungen.
Abendbericht von Ulrich Schäfer-Newiger